- Kultur
- Die gute Kolumne
Deutscher Kinofilm der Gegenwart
Was man nicht weiß, kann man spüren - in der Tiefsinnsimulation
Wo alle in riesigen modernisierten Berliner oder Hamburger Altbauwohnungen leben, wo alle mit der größten Selbstverständlichkeit wohlhabend sind, wo Armut und Elend nicht existieren und niemals über Geld gesprochen wird, so als falle es allmonatlich vom Himmel direkt in unsere Hände, da wissen wir: Wir befinden uns in einem deutschen Kinofilm der Gegenwart. Dessen Protagonisten haben in aller Regel hochangesehene Berufe im Kulturbetrieb, arbeiten an der Universität als Professorin oder sind Dirigent, Schriftsteller oder Ärztin. Vernünftiges mitzuteilen haben sie indes nicht, während sie mit einem Cognacschwenker in der Hand auf einem Designermöbelstück sitzen. Vielmehr klingen die vorabendserienhaften und grenzdebilen Dialoge, die aufgesagt werden, als hätte der Drehbuchautor sie aus einem der Groschenromane, die hierzulande als »Literatur« verkauft werden, oder aus einer der im Internet verfügbaren Kalenderspruchsammlungen abgeschrieben: »Man muss dem Ruf seines Herzens folgen«, »Vielleicht weiß ich es nicht, aber ich kann das spüren, weißt du?«, »Es ist ein schmaler Grat zwischen Tod und Leben«. In der »Spiegel«-Rezension ist dann hinterher nicht selten von »meisterhaften Dialogen voller emotionaler Wucht« die Rede. Auch an Pathos, Kitsch und Tiefsinnsimulation wird nicht gespart. Die Medien nennen das dann gern »philosophische Tiefe«.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht vollständig auf die Herstellung und den Vertrieb solcher deutschen Filmproduktionen verzichtet werden sollte.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Natürlich gibt es neben den bürgerlichen Hauptfiguren des Films hie und da auch mal eine gutmütige, aufopferungsvolle Nachbarin oder lustige Witwe, die von Beruf Friseurin ist, oder einen drolligen, sprücheklopfenden Kneipenwirt oder Taxifahrer, doch meist sind diese Randfiguren (von denen wir nicht erfahren, ob auch sie in riesigen Altbauwohnungen leben) nur Dekoration, Beiwerk, Sprechfleisch.
Die Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller, in deren Reklameprospektgesichter wir wehrlos blicken müssen, sind ausnahmslos immer dieselben: Lars Eidinger, Frederick Lau, Corinna Harfouch, Martina Gedeck, Tom Schilling, August Diehl, Nora Tschirner. Kann schon sein, dass es auch mal andere sind, doch dann ist es uns nicht aufgefallen. Und sie spielen ihre Rollen häufig auf so exaltierte Weise, dass man als Zuschauer resigniert und wie von Fremdscham zerrüttet im Kinositz zusammensinkt. Für das deutsche Kino gilt: Kaum hat der Film angefangen, fangen sie schon an zu fuchteln. Deutsche Darsteller neigen extrem zum »Outrieren«. Sie sprechen selbst banalste Sätze aus, als sagten sie gerade feierlich ein Stefan-George-Gedicht auf. Sie grimassieren dabei, verdrehen die Augen und führen jede noch so kleine Geste so aus, als nähmen sie gerade an einem geheimnisvollen Ritual teil.
Dabei sind es im Grunde stets dieselben drei bis fünf Rollen, in denen sie auftreten: der evangelische, konservativ-verkniffene oder modern-tolerante deutsche Liberalo-Spießbürger; der großmäulig-hemdsärmelige (Lau) oder schüchtern-androgyne (Schilling) Jungmacker; die Brille tragende, sexy-kecke Studentin/Akademikerin; die nachsichtig-patente oder lustig-hysterische Hausfrau und – nicht zu vergessen – der stets zuverlässig mit übertriebenem Akzent holpriges Deutsch sprechende, undurchsichtige/durchtriebene oder quirlig-aufgedrehte Ausländer.
Der Tod – auch wieder eines von den vielen Problemen, für die die Linke noch keine Lösung gefunden hat – wird in deutschen Filmproduktionen stets romantisiert oder ästhetisiert. Das heißt: Wer in einem deutschen Film stirbt, stirbt langsam, weihevoll und affektiert, mit letzten pathetischen Gesten (nochmal Gelegenheit zum Grimassieren und Augenverdrehen, Großaufnahme der Hand des Sterbenden in der Hand des ihn dabei Begleitenden, Gesichter in Großaufnahme, falsche Tränen, im Soundtrack schmierige Streichermusik (bzw. »Streichmusik«, wie es auf Netflix in den Untertiteln lustigerweise stets heißt)). Oder der Vorgang des Sterbens wird ganz ausgespart: Der Zuschauer wohnt nur der immer gleich inszenierten Beerdigung bei (Beisetzung im »Ruhewald« oder auf einem grünen, bewaldeten, pittoresken Friedhof, Kamera zoomt sich von schräg oben langsam an die Trauergäste heran, Gesichter in Großaufnahme, falsche Tränen, schmierige Streichermusik).
Sie wollen alle immer Ingmar Bergman sein, die deutschen Filmregisseure, dabei sind sie bloß Til Schweiger. Sicher ist jedenfalls: Aufgrund der Funktionsweise der deutschen Filmförderung wird dieser Mist auch künftig die Kinos überschwemmen.
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