Dauertagung des Zipfelklatscherkongresses

Der Kapitalismus führt uns täglich vor, wie abstoßend das »gesellige Beisammensein« ist

Wer nicht auf die Zombie-Apokalpyse warten will, bis es auf der Welt etwas leerer wird, der muss hierhin ziehen.
Wer nicht auf die Zombie-Apokalpyse warten will, bis es auf der Welt etwas leerer wird, der muss hierhin ziehen.

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht jede und jeder gut daran täte, das Leben allein zu verbringen. Allein soll heißen: in vollkommener Isolation.

Denn, seien wir ehrlich: Niemand braucht Freunde, Kollegen oder eine Familie. Es geht gut auch ohne sie. Freunde sind in aller Regel Menschen, die im Grunde nichts von uns wissen, uns trotzdem verachten und uns verraten, sobald es ans Aufteilen der Beute geht. Als Kollegen bezeichnen wir jene Nervensägen, die uns bei der täglichen Arbeit behindern. Und unter den Angehörigen einer Familie ist Hass das normale, gesunde, alles beherrschende Grundgefühl. Selbst der Partner und innig geliebte Mensch, mit dem wir zusammenleben, entpuppt sich nach Sonnenaufgang als störende Geräuschkulisse und humanoide Wohnraumblockade und mutiert, sobald die Schlafenszeit kommt, zu einem atmenden, das Bett verengenden Hindernis. »Die Ehe ist das Beieinander zweier übler Launen bei Tag und zweier übler Gerüche bei Nacht«, wusste bereits der französische Politiker und Gelehrte Charles Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838).

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Zugegeben: Vor zwei Wochen war an dieser Stelle noch die Rede davon, dass der Kapitalismus stets zuverlässig Wege finde, alles »schlechter und hässlicher« zu machen. Aber weil Dialektik keine Einbahnstraße ist, muss nun auch eingestanden werden: Der Kapitalismus macht, auf seine spezielle Weise, auch manches besser. Das tut er, indem er uns ebenso bittere wie unverzichtbare Lektionen fürs Leben erteilt. So führt er uns etwa den Schrecken und das Grauen des gemeinschaftlich gelebten Alltags vor, um uns zu peinigen.

Von der Wiege bis zur Bahre sind wir zusammengepfercht in Zwangskollektiven: Familie, Kindergarten, Schule, Studenten-WG, Armee, Fabrik, Firma, Partei, Sportverein, Fitnessstudio, Aberglaubensgemeinschaft. Der Kapitalismus lässt uns unsere Mitmenschen kennenlernen, damit wir ordentlich unter ihnen leiden. Und wenn wir Leid erfahren, bemühen wir uns, es zu tilgen. Wir versuchen, unserem Leben eine neue Richtung zu geben und alles aus ihm zu eliminieren, was uns beständige Qual und Pein verursacht: Familienangehörige, Kollegen und »Freunde« zum Beispiel. Aber auch alle anderen.

Von der Wiege bis zur Bahre sind wir zusammengepfercht in Zwangskollektiven: Familie, Kindergarten, Schule, Studenten-WG, Armee, Fabrik, Firma, Partei, Sportverein, Fitnessstudio, Aberglaubensgemeinschaft.

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Wir begegnen ihnen fortwährend: den brüllenden, fahnenschwenkenden und besinnungslos auf- und abhopsenden Fußballfangruppenaufläufen; den unter lauten Würgegeräuschen auf die Straße rotzenden Männercliquen, die breitbeinig in Pulks an Straßenecken herumstehen; den »Schlagermove«-, »Loveparade«- oder Karneval-»Feiernden«, die meinen, ihr Gegenüber unablässig mit ihrer Variante von »Spaß« behelligen zu müssen usw.

Indem er uns das sogenannte soziale Miteinander und »fröhliche Beisammensein« von seiner abstoßendsten Seite zeigt, will uns der Kapitalismus eine wichtige Erfahrung machen lassen. Er lehrt uns: Die Gemeinschaft der Mitmenschen ist bei genauerem Hinsehen tatsächlich nichts anderes als eine mal mehr, mal weniger unter Drogen stehende Beklopptenversammlung, ein temporärer Ballungsraum voller unberechenbarer, psychisch teils schwer beeinträchtigter Personen, ein extrem toxisches Menschengewühl, ein einziger riesiger und rund um die Uhr tagender Zipfelklatscherkongress, ein Volksgefängnis (um dem Wort mal einen neuen Sinn zu geben), aus dem man nicht entkommt. Wir brauchen diese Leute nicht. Und mit ihnen auch all die überflüssige Infrastruktur nicht, in der sich diese Sorte Menschen traditionell wohlfühlt: Rummelplätze, Shopping Malls, Volksfestwiesen, Sportstadien, Großveranstaltungs- und Mehrzweckhallen, Open-Air-Arenen, mehrspurige Fahrbahnen, Bundeswehrkasernen. Das kann alles weg.

Die Bundesregierung jedoch legt – statt im großen Stil auf freien Innenstadtflächen schalldichte Einzel-Lesekabinen zu errichten und Panikräume/Fluchtbunker für Menschen einzurichten, die noch bei Verstand sind und ihre Ruhe haben wollen – wie immer ein extrem bizarres und realitätsfremdes Handeln an den Tag: Im vergangenen Jahr hat sie »111 Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Verbundenheit und des gesellschaftlichen Miteinanders« verabschiedet.

Ganz so, als gäbe es in hiesigen Gefilden noch zu wenig Polonaisen und Paraden durch Fußgängerzonen, zu wenig Geschrei und Getümmel. Ganz so, als herrsche im Land ein eklatanter Mangel an Fascho- und Faschingspartys, AfD-Stammtischen, Fan- oder Biermeilen und Public-Viewing-Zusammenrottungen, bei denen sich die Teilnehmer stolz gegenseitig ihre Hakenkreuztattoos zeigen. Was dabei herauskommt, wenn hierzulande nach einem gestärkten gesellschaftlichen Miteinander gerufen wird, konnte man neulich auf Sylt beobachten, als eine Kohorte reicher deutscher Schnösel zu schlechter Schlagermusik ihre Nazigesinnung kundtat.

Sicher ist jedenfalls: Alleinsein bleibt ein erstrebenswerter Zustand. Und nach wie vor gelten die Worte des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal (1623–1662): »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.«

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