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Festival d’Avignon: Die große Beschwörung
Beim Festival d’Avignon wird bildstarkes Theater präsentiert. Am Eröffnungswochenende triumphierte Frankreichs extreme Rechte
Ein bisschen scheint er mit der Umgebung zu fremdeln. Der Papst läuft den Platz ab, wirft prüfende Blicke nach links und nach rechts. Dabei nimmt er mit seiner Präsenz den Raum sehr mühelos ein. Wir befinden uns im Hof des Papstpalastes im südfranzösischen Avignon. Im Spätmittelalter errichtet, hatten in dem monumentalen gotischen Bau im 14. und 15. Jahrhundert die Oberhäupter der katholischen Kirche residiert, ehe das Pontifikat nach Rom zurückkehrte.
Der Papst, der zu später Stunde vor den prächtigen Sitz seiner Vorgänger tritt, ist – natürlich – ein Schauspieler. Kaum anders wäre es zu erklären, dass nur einige Zeit später die Regisseurin und Performerin Angélica Liddell seinen Talar hebt, unter dem der Pontifex maximus – wer will es ihm bei diesen Temperaturen verdenken? – vollkommen nackt ist, und ihm en passant an den Penis greift.
Eine Passion
»DÄMON. El funeral de Bergman« (Dämon. Die Beerdigung Bergmans) ist der Titel dieses Theaterabends, der am vergangenen Samstag die 78. Ausgabe des Festival d’Avignon eröffnete. Es handelt sich um eine zweistündige Geisteranrufung der spanischen Künstlerin Liddell, die auch in Deutschland längst keine Unbekannte mehr ist und beispielsweise mehrfach an der Berliner Schaubühne gastiert hat.
Ihr »DÄMON« ist eine Reminiszenz an den schwedischen Filmemacher Ingmar Bergman. Der Pastorensohn hat sich mit seinem Schaffen für Kino und Bühne obsessiv am menschlichen Dasein mit seinen Abgründen, vor allem aber am Tod abgearbeitet. Da nimmt es nicht wunder, dass Bergman, in Cannes einst als »bester Filmemacher aller Zeiten« geehrt, für seine eigene Beerdigung ein detailreiches Skript angefertigt hat, inspiriert übrigens von dem Zeremoniell nach dem Ableben von Papst Johannes Paul II.
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Angélica Liddell hat Bergman, deren Werk sie, wie sie zu verstehen gibt, bewundert, noch einmal ausgebuddelt, nur um ihn abermals unter die Erde zu bringen. Sie nähert sich auf erstaunlich katholische Weise dem skandinavisch-protestantischen Existenzialisten. Künstlerische Weggefährten Bergmans lässt sie auf die Bühne treten, vor der zweitausend Zuschauer platziert sind; sie hat Kostüme ausgewählt, die auch in Bergmans Arbeiten getragen wurden. In der katholischen Kirche wie im Theater der Angélica Liddell, so möchte man meinen, glaubt man noch an die Wunderwirkung durch Worte, Berührungen, Artefakte.
Dass die ästhetische Strategie des nicht selten quälend langsamen Erzählers Bergman und die Liddells, die Inspiration in der Performancekunst sucht, grundverschieden sind, ist augenfällig. Bei ihrem ersten Bühnenauftritt an diesem Abend trägt sie ein porzellanes Standbidet nach vorn, lupft ihr leichtes weißes Gewand und wäscht sich gründlich ihr Geschlecht. Als sie damit fertig ist, schüttet sie das Wasser mit einigem Schwung an die Mauer des Papstpalastes. Sie liebt die großen Bilder und die bösen Worte.
Liddell liest einen Querschnitt aus den leidenschaftlichsten Verrissen ihrer Werke vor. Schon bald tritt ein Dutzend Greise auf und wird in Rollstühlen kreuz und quer über die Bühne geschoben. Ein Kind kommt dazu (dem man das Geschehen aber lieber nur mit verbundenen Augen zumuten will). Ein rot geschminkter Teufel nimmt Platz auf einer Toilettenschüssel, und jeder darf sich freimachen oder wahlweise ein paar nackte Leiber betrachten.
Nein, es mangelt nicht an Bühneneffekten. Aber die Inszenierung zerläuft etwas, bekommt die Regisseurin doch ihr Thema kaum zu greifen und spricht in wortreichen Monologen mal von diesem, mal von jenem. Das Motiv jedoch, das sich durchzieht, ist Scheiße. Von dementen Menschen spricht sie, die sich Scheiße ins Gesicht schmieren. Vom Scheißen als elementarem Vorgang menschlichen Lebens. Von der Notwendigkeit zu scheißen als menschliche Kränkung.
Und so klagt sie über die Last des Alters und des Sterbens. Sie verdammt die alten Eltern, bemitleidet sie, trauert um sie. Sie schreit und ruft. Am Ende aber ist Versöhnung. Mit dem Leben – und mit dem Tod. Erlösung bringt »DÄMON« aber nur für die, die auch daran glauben wollen. Denn rein künstlerisch bleibt hier doch vieles im Vagen.
Schöne Oberfläche
So geht der Abend vor dem ersten Wahlgang zur Neukonstituierung der französischen Nationalversammlung zu Ende. Der portugiesische Theatermacher Tiago Rodrigues, der im Herbst 2022 die künstlerische Leitung des Festival d’Avignon übernommen hatte, nutzte seine Bühne, um sich entschieden gegen Marine Le Pen und den Rassemblement National auszusprechen.
Sein Anliegen war so richtig wie ehrenhaft; genützt hat es wohl kaum. Während sich am Wahlsonntag die sichtlich gutgelaunten Menschenmassen, bestehend aus Provence-Reisenden, Festivalbesuchern und Kleinkünstlern, die neben dem Festivalspielplan ihr eigenes Off-Programm auf Straßen, in Hinterhöfen und auf kleinen Bühnen präsentieren, durch die Stadt bewegen, haben die Rechtsextremen 33 Prozent der Stimmen erhalten. Die Zahlen wollen sich nicht fügen in das Bild von der hippiesk-mediterranen Stadt an der Rhône.
Für jeden?
2013 wurde die Spielstätte La Fabrica in Avignon eröffnet. Es war ein kleiner Triumph für das seit 1947 bestehende Festival. Mit dem modernen Bau bekamen die Festspiele einen technisch bestens ausgestatteten neuen Aufführungs- und Probenort. Dass die Bühne nicht inmitten der pittoresken Altstadt steht, sondern ein kleiner Fußmarsch von den teuren Hotels notwendig ist, um eine Vorstellung zu besuchen, hatte auch den Hintergrund, dass sich das Festival so als offen für alle sozialen Gruppen präsentieren konnte und kann.
Am Wahltag ist hier »Absalon, absalon!« (Absalom, Absolom!) nach dem gleichnamigen Werk von William Faulkner zu sehen. Fünf Stunden dauert das Spektakel, für das die Regisseurin Séverine Chavrier das figurenreiche Personal des Südstaatenromans auf die Bühne schickt und dort durchgängig mit der Live-Kamera einfängt. Voraussetzungsreich ist die Arbeit, die wohl auch einige Textkenntnis zur Orientierung im Bühnengewimmel erfordert. Allerdings macht es den Eindruck, dass der unumstrittene Klassiker Faulkner in immer weniger Bücherregalen, zumindest in deutschen Haushalten, zu finden ist.
Verschachtelt und die Perspektiven wechselnd, wie im Roman, wird mit der Kamera die Geschichte von Thomas Sutpen erzählt. Es ist die Zeit des Sezessionskrieges. Und in der Biografie dieses Mannes zeigt sich wie im Spiegel das Sittenbild einer Zeit: die Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern, Sklaverei, Misogynie und Gewalt sowie das Fortdauern eines Krieges, der Helden nicht kennt. Hinzu stellt Chavrier gekonnt Reflexionen und biografische Versatzstücke ihrer Schauspieler.
Die – vergleichsweise noch günstigen – Tickets, die für »Absalon, absalon!« zum Einheitspreis von 30 Euro angeboten werden, haben wohl nicht alle sozialen Gruppen angezogen. Es bleibt zu vermuten, dass Rodrigues’ Ansprache wie auch die politisch ambitionierte, aber von Belehrungen wohltuend freie Inszenierung von Chavrier vor allem diejenigen erreicht hat, bei denen keine Überzeugungsarbeit hätte geleistet werden müssen. Hier zeigt sich ein Grundproblem des Theaters, das den Ausweg aus der elitären Blase sucht, ihn aber nur schwerlich finden kann.
Klasse und Kitsch
In »Lacrima«, einer Inszenierung der Regisseurin Caroline Guiela Nguyen, wird ebenfalls der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit gelenkt. Allerdings handelt es sich um einen sehr speziellen Ausschnitt dieser Wirklichkeit. Das Bühnenbild zeigt eine moderne Nähwerkstatt. Einem Modehaus in Paris fällt die Aufgabe zu, das Hochzeitskleid für die englische Prinzessin im Jahr 2025 herzustellen. Bis zum Abgrund des Erträglichen wird deren Leiterin getrieben, die sich in der Kommunikation zwischen Königshaus, indischen Stickereiarbeitern und einem französischen Familienbetrieb sowie persönlichen Problemen aufreibt. Der aus der Zeit gefallene Sozialrealismus, in dem die Inszenierung gehalten ist, wird emotional übersteigert durch eine schwere, tragende Musik.
Der ungeschönte Einblick in diese fremde Welt mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Zeiten von moderner Sklaverei und neuen Formen der Ausbeutung der Fabel von »Lacrima« um eine Prinzessin und Angehörige klassischer Handwerksberufe etwas Disneyhaftes eigen ist. Die Betrachtung eines Spezialfalls aber kann die Analyse genereller Abhängigkeits- und Lohnverhältnisse nicht ersetzen.
Konfliktsuche
Festivalleiter Rodrigues geht bei seiner eigenen Regiearbeit »Hécube, pas Hécube« (Hekabe, nicht Hekabe) einen anderen Weg. Als Spiel im Spiel lässt er Darsteller der Comédie-Française Schauspieler mimen, die die selten gegebene »Hekabe« des Euripides probieren. In die Arbeitsrealität der Theaterschaffenden bricht von außen die private und gesellschaftliche Umgebung ein, und umgekehrt: In ihren Leben erkennen die Spieler plötzlich ihr persönliches Hekabe-Problem.
15 Kilometer von Avignon entfernt, an einem archaischen Platz, im Steinbruch von Boulbon, 1985 von Altmeister Peter Brook erstmals im Rahmen des Festivals bespielt, hat Rodrigues den richtigen Spielort für dieses archaische Stück, fast zweieinhalb Jahrtausende alt, gefunden. Die Titelheldin Hekabe, Frau des Priamos, ist die Königin von Troja. Ihre Stadt ist gefallen im Krieg gegen die Griechen, angeführt von Agamemnon. Ihr Mann ist tot. Ihr und ihrer Tocher Polyxena droht das Schicksal der Versklavung. Nur ihr Sohn Polydoros wurde, ausgestattet mit etwas Gold, rechtzeitig zu den verbündeten Trakern geschickt. Doch König Polymestor gilt die Loyalität mit den Gefallenen nichts, er nimmt das Gold und tötet Polydoros. Auch Polyxena findet den Tod und wird am Grab des Achill geopfert. Hekabe bleibt nur der Bittgang zu Agamemnon: Sie will Rache an Polymestor. Die Schmach durch die Feinde ist die eine Sache; das Leid, verursacht durch Freunde, eine andere. Sie bekommt ihre Rache. Was für eine Geschichte!
Bei der gespielten Theaterprobe im Steinbruch begegnen uns vertraute, keineswegs platte Schauspielertypen: Der eitle Mime, der bei jeder Gelegenheit ins Licht tritt; der diskussionswütige Spieler, dem nichts heilig ist, am wenigsten der Text eines toten alten weißen Mannes; der vehemente Verteidiger des Autors.
Nadia, die Darstellerin der Titelfigur, ist auf der Probe nicht bei der Sache. Etwas anderes treibt sie um. Ihr Sohn, der minderjährige Otis, ist Autist. In einer staatlichen Einrichtung, in der er betreut wird, widerfährt ihm Missbrauch. Wir folgen nicht nur dem Probengeschehen, sondern auch der gerichtlichen Auseinandersetzung von Nadia mit der Klinik. Was ist ihr Ziel? Rache? Gerechtigkeit.
Wie Polydoros dem Freund anvertraut wurde, so hat hier eine Mutter Vertrauen in die staatliche Fürsorge investiert. Die archaische Welt hat das Recht nicht gelten lassen; die bürgerliche Gesellschaft ist ihrer Verantwortung nicht nachgekommen. Rodrigues hat sich von realen Vorkommnissen in der Schweiz zu diesem Stück herausfordern lassen.
Wir sehen diese Geschichte um den Jungen Otis, wir hören die sehr alten Worte des Euripides und fragen uns: Ist diese Frau Hekabe, allen Unterschieden zum Trotz? Ist sie es nicht, obwohl sie Erfahrungen dieser Figur teilt? Kennt die Gegenwart der Nadia einen Polymestor? Oder verbirgt er sich in einer unpersönlichen Institution? Kämpfen wir noch immer die Schlachten der alten Griechen? Und warum entscheidet sich der Regisseur für diesen Konflikt der Mutter um ihren Sohn? Müssten wir nicht, heute wieder, auch konkret nach der Möglichkeit von Menschlichkeit in kriegerischen Zeiten fragen? Das Gebaren der Sieger geißeln?
Um diese Fragen reicher – das ist nicht das Schlechteste – und mit dem Steinbruch Theater im Kopf geht es des Nachts zurück von Boulbon nach Avignon, wo verschiedene Bühnenkünstler Alarm schlagen angesichts der Faschisierung Frankreichs. Tiago Rodrigues beschwört ein Festival des Widerstands. Frankreich sind noch unzählige weitere Zellen des Widerstands zu wünschen, es wird sie gebrauchen können.
Die 78. Ausgabe des Festival d’Avignon findet bis zum 21. Juli statt. Den vollständigen Spielplan finden Sie unter www.festival-avignon.com.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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