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Lapidare Anschaulichkeit: Der Theaterregisseur Manfred Karge erzählt in »Eigentlich immer Glück gehabt« sein Leben
Wie erzählt man sein eigenes Leben, wenn man Regisseur ist? Manfred Karge entscheidet sich für eine Vielzahl kleiner Szenen, ein Mosaik aus Lebenssplittern. Der minimalistische Erzählgestus zeigt die Effizienz dessen, dem das dramatische mehr als das epische Feld vertraut ist. Friedrich Dieckmann spricht dann auch in seiner Moderation bei der Buchpremiere im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Berlin-Pankow von »lapidarer Anschaulichkeit«, die diesem für ein langes Leben eher knappem Buch den Grundton vorgibt.
Der Untertitel lautet: »Eigentlich immer Glück gehabt«. Ein verblüffendes Resümee für einen, der es anfangs ebenso so schwer hatte wie andere Kinder dieses Jahrgangs 1938. Ein die schrecklichen Dinge genau beobachtendes Kind am Ende des Krieges. Es sind Bilder, die sich ihm bis heute eingebrannt haben. Vom ersten Unglück seines Lebens erfuhr er erst später: Seine Mutter Anna Karge starb sieben Tage nach seiner Geburt am Kindbettfieber. Der Vater, Arbeiter in der Hutmacherfabrik Silbermann & Co., steht mit Kind, aber ohne Frau da. Die Kantinenfrau der Fabrik bietet dem Vater ihre Hilfe an – »und ich kam zu einer Mutter«. Ein Glück, denn bei Kriegsende kommt ihm der Vater abhanden, verhaftet vom sowjetischen Geheimdienst NKWD, er stirbt Ende 1945 im Lager Ketschendorf bei Fürstenwalde. Eine jener Lebenswunden, für die Heiner Müller das Bild fand, sie würden zwar vernarben, aber schief.
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Wie dann seine Stiefmutter an den Totenschein kommt, der dem siebenjährigen Manfred eine kleine Waisenrente sichert, gehört zu jenen Kabinettstücken des erfindungsreichen Überlebenswillens, wie sie kein Dramatiker hätte erfinden können. Glück gehabt? Ja, darauf besteht Karge, obwohl sowohl der Vater als auch die leibliche Mutter tot sind, als er in die Schule kommt. Denn die beginnt wieder im Herbst 1945 im vom Faschismus befreiten Nachkriegsdeutschland – und Manfred Karge, dessen Zukunftschancen zu diesem Zeitpunkt kaum schlechter hätten sein können, wird dann doch etwas werden. Kann in der DDR studieren, wird Schauspieler und Regisseur, kommt ans Berliner Ensemble, wo die strenge Helene Weigel zur künstlerischen Wahlmutter avanciert.
Das Theater, schreibt Karge, sei zu seiner eigentlichen Heimat geworden. Film habe ihn weniger interessiert. Doch aus einem Defa-Film kennt ihn fast jeder: Gilbert Wolzow in Joachim Kunerts Verfilmung von »Die Abenteuer des Werner Holt« nach dem Roman von Dieter Noll, gedreht 1964/65. Halbe Kinder müssen Anfang 1945 Soldat werden. Wolzow ist der Gegenspieler zum eher zögerlich-nachdenklichen Werner Holt (unvergesslich in dieser Rolle: Klaus-Peter Thiele), eine charismatische Kraftnatur im Auftrag des mit allen Mitteln zu erzwingenden Endsieges Hitlerdeutschlands. Ein Verführer bis zum bitteren Ende. Wer Karge in dieser Rolle gesehen hat, weiß danach, er hat in den Abgrund eines mörderischen Heroismus geblickt.
Mit Matthias Langhoff begann Karge früh Theater anders als bisher aufzufassen: als sinnfälliges Spektakel. Die Volksbühne unter dem Schweizer Benno Besson blühte in den 70er Jahren nicht zuletzt durch die Regiearbeiten von Karge/Langhoff. Ihre erste Zusammenarbeit resultierte noch aus der Zeit am Berliner Ensemble. Der Wille, eine Lücke im Spielplan des Berliner Ensembles zu nutzen, brachte sie zusammen: »Wir kannten ein altes Foto aus dem Jahr 1928. Es zeigte eine Szene aus dem Songspiel ›Mahagonny‹, das Brecht und Weill zu den Baden-Badener Musiktagen gemacht hatten. In der Mitte der Szene ein Boxring, in dem Boxring agierten die Schauspieler. Wie gesagt eine alte zerkratzte Fotografie, aber sie verströmte eine ungeheure Atmosphäre.«
Sie schlagen der Weigel »Mahagonny« als ihr gemeinsames Regieprojekt vor, die stimmt zu. Doch dann die Ernüchterung: Der Text vom »Mahagonny-Songspiel«, so müssen sie sich im Brecht-Archiv sagen lassen, gilt als verschollen. Kurzerhand beschließen sie, »den Text selbst herzustellen«. Ein Schelmenstreich, der (fast) niemandem auffällt. Der Abend wird ein großer Erfolg.
Die Folgen der Biermann-Ausbürgerung treffen auch Benno Besson. Die Volksbühnen-Erfolgsgeschichte endet, ihm wird gekündigt – und auch Karge/Langhoff gehen. In dem Mini-Kapitel »Cognac und Salzstangen« kann man auf knapp zwei Seiten (gern hätte man es, wie so vieles in diesem Buch, detaillierter erfahren) nachlesen, wie im Herbst 1977 eine Unterredung beim Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann verlief. Hoffmann galt als liberal und wurde 1988, weil er sich in der bundesdeutschen Theaterzeitschrift »Theater heute« für Gorbatschows Perestroika aussprach, von Politbüromitglied Kurt Hager zum Rücktritt aufgefordert. »Als das Gespräch auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns kam, gab er uns zu verstehen, dass er die Sache und, wie sie gelaufen wäre, nicht gut fände.« Nach dem Gespräch erhalten beide ein Ausreisevisum für drei Jahre.
Karge setzt seine Zusammenarbeit mit Langhoff auch im Westen fort. Bei Claus Peymann in Bochum inszenieren sie als erstes »Lieber Georg«, über den Tod des expressionistischen Dichters Georg Heym, der mit seinem Freund Balcke 1912 beim Eislaufen auf der Havel einbrach und ertrank. Karge spielt Heym, auf ausdrücklichen Wunsch des Autors Thomas Brasch, der ebenfalls eine Art Botschafter des DDR-Theaters wider Willen im Westen geworden ist. In den 80er Jahren endet dann die Zusammenarbeit mit Langhoff. Kein Streit, doch die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen hatten sich erschöpft. Karge notiert: »Der Freund / Nun Einzelkämpfer so wie ich.«
In Wien bringt Karge 1986 »Der Sturz des Engels« von Franz Fühmann auf die Bühne. Unter diesem Titel erschien dessen fulminanter Essay »Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht« aus dem Rostocker Hinstorff Verlag im Westen (den Hinweis auf den Originaltitel hätte ich allerdings erwartet). Das Großartige an Fühmanns Essay ist die kunstvolle Verknüpfung der apokalyptischen Dichtung Trakls nicht nur mit dem Ersten Weltkrieg, sondern auch mit Fühmanns eigener Kriegserfahrung und dem Stalinismus der frühen DDR-Zeit. Vielleicht ist dies das hellsichtigste und gleichzeitig intimste Buch über deutsche Geschichte, das je geschrieben wurde.
1987 kommt Karge nach Edinburgh, wo die junge Tilda Swinton in der britischen Erstaufführung seines Erfolgsstücks »Jacke wie Hose« spielt. Von diesen und anderen Glücksfällen erzählt Karges Buch, immer sparsam mit Worten und Emotionen, eher im Protokollstil.
Eine große Leistung Karges kommt dabei fast zu kurz: Kurz vor Ende der Ära Peymann am Berliner Ensemble initiiert er eine Reihe mit bekannter ebenso wie unbekannter DDR-Dramatik, die im heute leider nicht mehr existierenden Gartenhaus szenisch gelesen wird. Stücke von Heinar Kipphardt über Alfred Matusche, Georg Seidel bis Lothar Trolle. Eine Fundgrube, die unter dem Titel »Erstürmt die Höhen der Kultur« (zusammen mit Hermann Wündrich) erschien. Jene Höhen, von denen Heiner Müller süffisant meinte, bevor sie erstürmt werden könnten, müssten sie planiert werden. Womit wieder die ganze DDR in ihrer tragikomischen Dimension angesprochen ist.
Manfred Karge: Eigentlich immer Glück gehabt. Begegnungen und Begebenheiten. Verlag neues Leben, 191 S., geb., 20 €.
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