Nicht so schnell bergab

Der wachsende Anteil von alten Menschen in den Industriestaaten befeuert auch die Altersforschung

Torte und auch noch Spaß dabei: Im hohen Alter werden die Gene wichtiger als der super-gesunde Lebensstil.
Torte und auch noch Spaß dabei: Im hohen Alter werden die Gene wichtiger als der super-gesunde Lebensstil.

Altern als normaler Bestandteil menschlichen Lebens scheint eine Selbstverständlichkeit. In den letzten Jahrzehnten wird der Prozess aber zunehmend hinterfragt. Der Wunsch, auf Dauer jung, stark und gesund zu sein, ist allerdings auch nicht neu. Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel versprechen viel. Die Schönheitschirurgie erobert weitere Körperregionen und gewinnt neue Kundengruppen. Begehrlichkeiten weckt die Aussicht, den Abbau von physischen wie kognitiven Fähigkeiten aufzuhalten, bis hin zu Forschungen für das ewige Leben. Im US-amerikanischen Silicon Valley werden Milliarden Dollar in die biotechnologische Erkundung von Mechanismen des Alterns gesteckt. Dabei geht es unter anderem um Genforschung, die Manipulation von Zellen und Methoden, mit denen sich Gewebe regenerieren ließe.

»Bergauf, bergab, zuletzt ins Grab« heißt es in einem Reim über den Gang des Lebens. Zumindest der mittlere Abschnitt könnte nun revidiert werden, was die Stetigkeit betrifft. Denn Forscher der Stanford University (in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Silicon Valley) entdeckten jetzt, in welchem Lebensalter es zu regelrechten Schüben bei der Alterung kommt.

Wessen Herz oder Niere gar nicht erst erkrankt, der gewinnt Lebensjahre. Diese Menschen werden nicht ewig leben, aber länger.

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Für ihre Studie, die im Fachmagazin »Nature Aging« veröffentlicht wurde, untersuchten sie 108 Teilnehmer im Alter von 25 bis 75 Jahren sehr genau. Den Probanden wurden über einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren regelmäßig Proben entnommen – aus Blut, Stuhl und der Mundschleimhaut. Man untersuchte sowohl körpereigene Moleküle als auch die auf und im Körper gefundenen Viren, Bakterien und Pilze. Auf dieser Basis wurde auf Darmgesundheit, Entzündungswerte und den Stoffwechsel der Teilnehmenden geschlossen.

Die erwähnten Moleküle änderten sich bei mehr als 80 Prozent der Probanden insbesondere im 44. und im 60. Lebensjahr deutlich. Die Forscher sprachen von »dramatischen Wechselperioden« im Alterungsprozess, zumindest unter biologischen Aspekten. Demnach scheint sich in der Mitte des fünften Lebensjahrzehnts etwa der Alkohol- und Fettstoffwechsel zu verändern. Mit Anfang 60 zeigten die Teilnehmer auffällige Veränderungen des Immunsystems und der Nierenfunktion. Zugleich änderte sich in diesen beiden Lebensphasen auch die Zahl der Moleküle, die mit der Haut- und Mundgesundheit sowie mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden sind. Bei Frauen könnte es für die Veränderung Mitte 40 einen Zusammenhang mit den Veränderungen in der Menopause geben. Jedoch treten die Veränderungen bei beiden Geschlechtern auf.

Bei den praktischen Schlussfolgerungen der Studienautoren könnte Enttäuschung aufkommen – diese beschränken sich nämlich auf einige durchaus übliche Gesundheitsempfehlungen: körperliche Aktivität erhalten und den Alkoholkonsum reduzieren, insbesondere in den Jahrzehnten um die genannten Umbrüche herum. Solche Empfehlungen sind auch dann immer wieder zu hören, wenn es darum geht, aus der Forschung auf molekularer Ebene oder im Tiermodell Schlussfolgerungen zu ziehen.

Einen Riesenschritt weiter ist man bei einem Wirkstoff, der bereits zugelassen und auf vielen Märkten weltweit – besonders in relativ wohlhabenden Staaten – verfügbar ist. Es handelt sich um Semaglutid, mit dem das Hormon GLP-1 nachgeahmt wird. Verabreicht wird es in sogenannten Abnehmspritzen, die, mit verschiedenen Markennamen, entweder vorrangig zur Behandlung von Fettleibigkeit (Adipositas) oder von Diabetes einsetzbar sind. Semaglutid scheint deutlich mehr Gesundheitseffekte auszulösen, als nur den Appetit zu unterdrücken.

Da wäre zunächst die Verringerung des Sterberisikos durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei übergewichtigen Menschen, was schon länger bekannt ist. Wöchentliche Injektionen verhinderten nicht nur Herzversagen, sondern auch Todesfälle im Zuge einer Covid-19-Infektion. Zudem würden Nierenkrankheiten abklingen, unbehandelbarer Bluthochdruck sank. Neuere Daten dazu stammen aus der Select-Studie aus den USA. Für diese wurden 17 600 übergewichtige und fettleibige Menschen untersucht, die bereits das 45. Lebensjahr erreicht hatten. Diese hatten keinen Diabetes, aber eine Herz-Kreislauf-Erkrankung. Sie wurden mindestens drei Jahre beobachtet, jeweils eine Gruppe erhielt Semaglutid, die andere ein Placebo.

Zusätzlich zu den genannten Effekten verringerte sich auch das Risiko für Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen, bei Frauen sogar deutlich häufiger. Symptome einer Herzinsuffizienz verbesserten sich und auch Entzündungswerte im Körper schwanden, unabhängig von einem Gewichtsverlust. Am meisten überraschte die Forscher die deutliche Verringerung von nicht kardiovaskulären Todesfällen, darunter jene im Zusammenhang mit Infektionen.

Halten wir fest: Offenbar gibt es unter Semaglutid nachweislich ein geringeres Sterbe- und Erkrankungsrisiko in Bezug auf verschiedene Leiden. Wessen Herz oder Niere gar nicht erst erkrankt, der oder die gewinnt Lebensjahre. Diese Menschen werden nicht ewig leben, aber länger.

Jedoch auch bei Semaglutid warnen Experten, dass es kein Ersatz für gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung darstellt. Zudem muss es gespritzt werden, was den Hype des einfachen Abnehmens bremst. Wird die Zufuhr gestoppt, kommen die Symptome – einschließlich des Hungergefühls – zurück. Nebenwirkungen und Risiken beginnen, um nur die häufigsten zu nennen, bei Übelkeit, Magenverstimmungen und Blähungen.

In Sachen Alterung des Gehirns gibt es ebenfalls Neuigkeiten. Zwar ist auch bei einer Studie zu diesem Organ, ähnlich wie in der eingangs erwähnten Untersuchung, die Fallzahl klein. Hier scheint das nachvollziehbar: Denn unter die Lupe genommen wurden von Wissenschaftlern in den Niederlanden die Gehirne von 120 geistig fitten Menschen, die mit über 100 Jahren gestorben waren. Zusätzlich wurden 480 Menschen befragt, untersucht und getestet, die mindestens 100 Jahre alt waren. Der überraschende Befund: Die Hochaltrigen wirkten nicht nur äußerlich wie Anfang 80. Auch ihr biologisches Alter entsprach eher dem von Personen, die 20 bis 30 Jahre jünger sind.

Bei der Untersuchung der Gehirne waren recht wenig Tau- und Beta-Amyloid-Ablagerungen zu finden. Beide Proteine stehen im Verdacht, zu verklumpen und an der Entstehung der Alzheimer-Demenz ursächlich beteiligt zu sein. Tau-Proteine waren teilweise auch bei den fitten Hochaltrigen zu finden, hatten aber bei diesen eine geringere Aggregationsneigung. Ähnliches war schon bei 70- bis 80-jährigen Demenzkranken beobachtet worden.

Auffällig war die Analyse von fast 200 Proteinen, deren Konzentration altersabhängig ab- oder zunimmt. Ein Teil trat bei den über 100-Jährigen in dem Maße auf, wie es einem biologischen Alter von 82 Jahren entspricht. Einige dieser Eiweiße scheinen die Aggregation von Proteinen insgesamt zu verhindern. Voraussetzung für in dieser Beziehung gesunde Gehirne sind offenbar die Gene. Deren Einfluss auf die Alterung ist mit 70 Jahren noch gering, bei rund 20 Prozent. Im Alter von 100 Jahren kann ihr Beitrag schon auf 60 Prozent beziffert werden, so Henne Holstege von der Universität Amsterdam. Sie hatte über die schon 2013 gestartete 100plus-Studie im Juli auf dem Alzheimer-Kongress in Philadelphia berichtet.

Auf jeden Fall konnte das hohe Alter der in die Studie einbezogenen Menschen nicht mit einem besonders gesunden Lebensstil erklärt werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten nämlich durchaus geraucht und Alkohol getrunken, wie auch bis in die letzten Lebensjahre gerne Süßes genossen – ebenso wie ihre schon früher verstorbenen Altersgefährten. Wer also einigermaßen gesund über 70 oder sogar über 80 Jahre alt geworden ist, der könnte hoffen, auch noch gut und fit die 100 schaffen.

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