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Zucchero: Die eigene Stimme finden
Die Doku »Zucchero« zeichnet den wechselvollen Weg des gleichnamigen Musikers an die Weltspitze nach
Zucchero, also Zucker. Was ist denn das für ein Name, noch dazu für einen international erfolgreichen Musiker? Mitten im Kopfschütteln darüber fällt mir ein, dass ich auf der EOS eine Mitschülerin hatte, die bei einem schuleigenen Wettbewerb das Gedicht »Wir sind nicht aus Zucker« vorstellte, worin es um die Widrigkeiten des Lebens, nicht nur jene klimatischer Art ging. Zwei Wochen später war sie tot, mit dem Moped verunglückt. Hat also auch die Lobpreisung des Zuckers ihre bittere Seite?
Bei Zucchero ganz gewiss, die Süße in seinem Namen scheint ein frommer Wunsch. Davon kann man sich in dem Film »Zucchero – Sugar Fornaciari« von Valentina Zanella und Giangiacomo de Stefano überzeugen. Eine filmische Biografie des heute fast Siebzigjährigen, der, 1955 geboren, in Roncocesi in der Reggio Emilia aufwuchs. Das war damals eine arme ländliche Gegend Italiens. Der Vater handelte mit Käse, davon und von einer kleinen Landwirtschaft überlebte die Familie gerade so. Und doch war es für ihn eine Art Paradies. Die Großmutter war die eigentliche Begleiterin seiner Kindheit. Und er durfte sogar die Orgel in der Kirche des kleinen Ortes spielen, jedenfalls dann, wenn gerade kein Gottesdienst stattfand. Vielleicht deutete sich die spätere Mischung aus Blues, Soul und Rock bereits an, soweit es letzteren damals schon gab. Die afroamerikanischen Rhythmen aus dem Süden der USA faszinierten ihn, eben weil sie sich jeder stilistischen Zuschreibung entzogen. Sie drückten den gleichen wilden Lebenshunger aus, gemischt mit einer unerklärlichen Traurigkeit, die auch er kannte.
Aber erst einmal gelang auch seiner Familie der soziale Aufstieg. Sie zog aus der Emilia weg, um anderswo besser zu leben. Für den Jungen aber war dies wie die Vertreibung aus dem Paradies. In der Küstenstadt Forte dei Marmi hatte er immer eine Streichholzschachtel mit Erde aus Roncocesi bei sich. Sogar im Schulunterricht holte er sie hervor, um daran zu riechen. Daher der Name Zucchero, den ihm dort die Lehrer gaben, was so viel wie der Empfindliche bedeutete. Das ist er bis heute geblieben: wild und empfindlich.
In der Küstenstadt Forte dei Marmi hatte er immer eine Streichholzschachtel mit Erde aus Roncocesi bei sich. Sogar im Schulunterricht holte er sie hervor, um daran zu riechen.
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Dass er Sänger werden wollte, wusste er früh. Der Jugendliche stellte sich verschiedenen Bands vor, aber die hatten alle schon Sänger. Vielleicht Saxofon? Da lieh er sich eins und durfte mitmachen. Dem Film gelingt es anhand von Archivaufnahmen, die weit zurückreichen, den beschwerlichen Weg Zuccheros an die Spitze zu zeigen. Lauter Irrungen und Wirrungen? Zweimal tritt er bei einem Talentwettbewerb in San Remo auf, da ist er schon dreißig, mit »Una notte che vola via« und – sehr dem Disco-Sound angepasst – drei Jahre später mit »Donne« (1985). Die Reaktion? Null. Er landet bei der Abstimmung ganz hinten. Man hörte wohl die unreinen Töne heraus, den rauchig aufspringenden Blues, der plötzlich etwas von Soul bekommt – und war irritiert. Ganz verleugnen konnte er sich doch nicht und das disqualifizierte ihn für die Musikindustrie. Der ebenso wilde wie melancholische Stilmix, über den sein Musikerkollege Bono später sagen wird, dieser bringe »seine Version der Oper in den Blues«, stellt ihn erst einmal ins Abseits. Und er geht nach Amerika.
Dann aber hat er Glück. Ein Jahr später wird der eher nervige Discotitel »Rispetto« zum Riesenerfolg, fast eine halbe Million Platten werden abgesetzt. Das bringt ihn nach New York und San Francisco, wo er mit Miles Davis und anderen musiziert. Diese sind überrascht, weil er plötzlich italienische Opernmotive unter den Blues mischt. Aber das kommt an, sogar sein Italienisch als Gesangssprache mag man hier. Er ist auf dem Weg, ein Weltstar zu werden, der auch Andrea Bocelli und Luciano Pavarotti in seine Arrangements einbezieht. Eine Tournee folgt Anfang der 90er Jahre der nächsten, insgesamt wird er 60 Millionen Tonträger verkaufen.
Aber auf der Höhe des gigantischen Erfolgs zeigt sich plötzlich wieder der Junge aus Roncocesi, der eine Streichholzschachtel mit Erde aus der Tasche zieht. 1992 stürzt er ab in eine tiefe Depression, kann und will nicht mehr mitmachen im großen globalen Konzertzirkus. Er verkriecht sich in seinem Heimatort, will niemanden aus der Musikbranche mehr sehen. Sechs Jahre dauert dieser Zustand, nur langsam erholt er sich. Schließlich überwindet er – in kleinen Schritten – die innere Lähmung und Kraftlosigkeit. Gartenarbeit und der Kontakt zu den einfachen Leuten der kleinen Stadt – nur das habe ihm das Leben gerettet, wird er später sagen. Äußeren Druck und fremde Erwartungen aber erträgt er nicht. Freunde holen ihn schließlich wieder auf die Bühne, aber vorerst nicht als Sänger, sondern weiter hinten – am Schlagzeug. Musik soll Freude machen, bekommt er, der jahrelang nicht mehr gelacht hat, gesagt.
Als er schließlich – Ende der 90er Jahre – wieder als Sänger auf der Bühne steht, wirkt er wie neu geerdet. Er allein bestimmt jetzt, mit wem er wann wo und wie musiziert. Aber da er weltweit Freunde hat, tourt er bald wieder, nur diesmal innerlich sehr viel stärker. Bono sagt, Zucchero habe die Fähigkeit erlangt, »Traurigkeit auszudrücken, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen«.
Es ist eine gewichtige Künstlerbiografie, die dieser Film zeigt, von jemandem, der nicht aufhört, sein Leben mit in die Musik hineinzunehmen, der mit ungewöhnlich rau-zarten Zwischentönen Geschichten von Sehnsucht und Zweifel, Hoffen und Versagen erzählt. So wie in einem seiner erfolgreichsten Lieder »Senza una Donna« (zusammen mit Paul Young), was sich ins Deutsche übersetzt – »Ohne eine Frau« – trivial anhört. Doch Erinnerungswelten in ebenso herben wie wahren Ausdruck zu verwandeln, das macht nun jene unverwechselbare Poesie der Lieder von Zucchero aus.
Das Filmteam begleitet ihn auch bei seiner großen Welttournee 2022/23 mit 114 Konzerten in 90 Städten und 36 Ländern. Der nun 69-Jährige, dem die Lebensspuren ins Gesicht geschrieben sind, der etwas schwerfällig und dicklich daherkommt, mitsamt großem Hut auf dem Kopf, scheint bestens in Form zu sein. Denn er ist erstaunlich präsent. Seine Stimme klingt heute viel besser, weil lebenstiefer als früher. Sein Credo begleitet ihn: »Der Blues kennt keine Grenzen, kein Land, keine Flaggen, außer jenen der Seele. Das ist es, wovon ich zehre, damit mein Herz nicht zerbricht.«
Der Film endet mit einer schönen symbolischen Szene: Zucchero, von der Bühne kommend, den Applaus noch im Ohr, aber schon draußen vor der Halle, greift an seinen Hut und steckt ihn aufs Geländer. Immer da, wo er diesen aufhänge, sei er zu Hause. Stimmt – und in Roncocesi.
»Zucchero – Sugar Fornaciari«, Italien 2023. Regie und Drehbuch: Valentina Zanella & Giangiacomo De Stefano. 100 Minuten, Start: 26.9.
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