- Kultur
- Antifaschismus
»Das war in der Zeit vor dem Internet«
Über den Antifaschismus, das Älterwerden, das Erinnern und die Vergesslichkeit
Als ich neulich gemeinsam mit meiner Frau an einer antifaschistischen Demonstration teilnahm, die sich gegen Israel-Hass und Antisemitismus richtete, fiel mir etwas auf: Wir alle, ungefähr 600 Personen, die durch die Straßen trotteten, waren älter geworden. Deutlich älter. Und damit meine ich nicht nur die grauen Haare.
Meine Frau wandte sich mir nach einiger Zeit zu und informierte mich: »Nur damit du Bescheid weißt. Falls ich festgenommen werde und die Polizei mich aus der Demo zerrt, werde ich gezwungen sein, zu den Beamten zu sagen: ›Mein Mann muss dann aber bitteschön auch verhaftet werden! Er kann sich die Nummer vom Ermittlungsausschuss länger merken als ich. Ich vergesse die ja immer sehr schnell.‹« Dabei lachte sie zwar schelmisch, doch über den Altersdurchschnitt der Demonstranten hatte sie mit dieser Bemerkung, wenn auch unfreiwillig, eine unmissverständliche Aussage gemacht: Hier waren Leute unterwegs, die ihr Wissen über den Holocaust tatsächlich noch von ihren Eltern oder Großeltern bezogen oder es sich aus Büchern angeeignet hatten, nicht aus von Bumsmusik unterlegten Filmschnipseln auf Tiktok, durch einen gelangweilten Blick auf Wikipedia oder – wie heutzutage unter jungen Menschen üblich – gar nicht.
Man ist ja schon froh, wenn man den langen Fußmarsch halbwegs bewältigen kann, ohne zwischendurch eine längere Verschnaufpause am Bratwurststand einlegen zu müssen, und auf die ringsum Stehenden noch halbwegs lebendig wirkt.
-
Besser gesagt: Es demonstrierten hier Leute, die Geschichtskenntnisse besaßen. Ältere Leute eben. Die aber zumindest in einem Punkt nicht vergesslich waren. Leute, die in 20, vielleicht 30 Jahren, wenn die Generation Z die Geschicke dieser Weltgegend bestimmt, nicht mehr da sein werden. Eine Freundin von mir, Lehrerin an einem Gymnasium, erzählte mir kürzlich mit erloschener Miene, dass es heutzutage als großer Bildungserfolg betrachtet werden kann, wenn Abiturienten das 15. Jahrhundert einigermaßen von den 50er Jahren unterscheiden können oder – eine anscheinend noch größere Herausforderung – den deutschen Nationalsozialismus von der DDR (»Das war in der Zeit vor dem Internet«).
Doch ich bin abgeschweift. Sehen Sie’s mir nach. In meinem biblischen Alter (56) fällt mir das Konzentrieren nicht immer leicht. Kommen wir zurück zum Thema: Auch allerlei Zipperlein, die mit dem Alterungsprozess einhergehen, zeigten sich auf der besagten Demonstration. Beschwerlichkeiten beim zügigen Gehen, gebeugte, eingeschrumpft oder ausgemergelt wirkende Körper, schwache Blasen. Die ganze Versammlung erinnerte, wenn man den Blick schweifen ließ, eher an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Kaffeefahrt als an die autonome Antifa, wie ich sie in Erinnerung hatte. Nur dass hier und heute keine Heizdecken verkauft wurden.
Jedenfalls musste ich unweigerlich an alte Zeiten denken, als man bei Demos in regelmäßigen Abständen kurzzeitig vergnügt auf- und abhüpfte, um anschließend geschlossen loszurennen und wieder abrupt stehenzubleiben, was seinerzeit offenbar nicht nur eine Taktik war, um »die Bullen« zu verwirren, sondern auch eine schlichte Methode, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und sich selbst und dem eigenen Kollektiv Mut zu machen. Mittlerweile machen das die morschen Knochen nicht mehr mit. Man ist ja schon froh, wenn man den langen Fußmarsch halbwegs bewältigen kann, ohne zwischendurch eine längere Verschnaufpause am Bratwurststand einlegen zu müssen, und auf die ringsum Stehenden noch halbwegs lebendig wirkt mit seinem von Falten zerfurchten Gesicht und seinem zuckerfreien Energydrink in der Hand.
Was sich auch verändert hat: Man weiß natürlich das Wesentliche über die Polizei, kennt deren unveränderte Funktion als bewaffnete Schutz- und Hilfstruppe des repressiven Staates, ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und ihre natürliche Feindseligkeit gegenüber allem Linken. »Der Typ in Uniform ist ein Schwein. Das ist kein Mensch.« (Ulrike Meinhof)
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Doch nun, beim Mitlaufen in dieser Demonstration, war man plötzlich dankbar, dass sie da war und bizarrerweise einen sich explizit links und antifaschistisch verstehenden Protestzug vor Angriffen verwirrter aggressiver Kleingruppen schützte, die sich in Verkennung der Realität auch als »links« bezeichnen. Noch absurder muss das groteske Schauspiel dem einen oder anderen Cop vorgekommen sein: Jahrelang wurde ihm eingetrichtert, dass es sich bei »der Antifa« um militante Linksextremisten handele, die unser schönes Land zerstören und gleich morgen den Kommunismus einführen wollen, und jetzt wurde er abkommandiert, um einen Protestzug dieser Halunken und Mordbrenner zu bewachen! »O tempora, o mores!«, wie Frau Dr. Durand, meine gute, alte Lateinlehrerin, sagen würde, lebte sie noch.
Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, die linken Demonstranten nicht langsam wieder jünger werden sollten.
Sicher ist jedenfalls: Nach der Demonstration ging’s weder in die Autonomenkneipe noch in die Volksküche. Stattdessen gab’s daheim ein Kännchen Bohnenkaffee und Torte (Bienenstich). Ganz so wie in naher Zukunft im Altersheim. Die Nummer vom Ermittlungsausschuss lautet übrigens seit Jahr und Tag: 030/69 22222.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.