Bitte starke Bilder

Wirklichkeit, aber spektakulär: Ein Bekenntnis zum Hyperrealismus

  • Jan Decker
  • Lesedauer: 11 Min.
Verzweiflung als innere Stimme: Kurt Cobain
Verzweiflung als innere Stimme: Kurt Cobain

Wenn ich hier ein literarisches Manifest irgendwo zwischen Gonzo und Klassik vorlege, so verfolge ich damit zwei Ziele. Zum einen möchte ich eine Standortbestimmung meines eigenen Schreibens vornehmen, die reizvoll, aber nicht notwendig ist. Denn die Gesetze des Schreibens vollziehen sich erst im Akt des Schreibens, sie kommen gewissermaßen blind zur Anwendung. Daher gibt es auch keinen Grund, ein literarisches Manifest vorzulegen, außer man möchte Politik betreiben. Andererseits mag es sinnvoll sein, nach einer Vielzahl von Texten einmal innezuhalten und ein Bekenntnis abzulegen. Zunächst vor sich selbst: Was schreibe ich die ganze Zeit? Und dann vor den anderen: Was vermittele ich die ganze Zeit?

Es geht um den Hyperrealismus. Sein Programm lässt sich am besten in ein erzählerisches Bild fassen: Der Mensch ist eine Figur in einem Computerspiel mit einer hypnotischen Kulisse aus sich ständig bewegenden Dingen. Der Programmierer ist vorerst unauffindbar: Gott. Der Hyperrealismus zeigt mit realistischen Mitteln die Welt als Fiktion. Er folgt dabei einem einfachen Prinzip: Zeigen ist unerschöpflich. Der Hyperrealismus entscheidet sich stets für das Überführen eines literarischen Stoffs in ein Bild (oder mehrere solcher Bilder). Er kann dieses Bild am überzeugendsten zeigen, wenn es einfach komponiert, aber hintergründig strukturiert ist. Dadurch ist der Hyperrealismus eng mit dem Traum und dem Film verwandt. Denn auch er kann Bilder in ihrer unerschöpflichen Folge zeigen. In seiner größtmöglichen Zuspitzung führt er zu den Bilderwelten eines M. C. Escher. Der Hyperrealismus ist die extremste Spielart des Realismus. Und zwar indem er die prekäre Seite der Realität ins Bewusstsein rückt, jene Momente des extremen Gleichen oder Ungleichen, der eingebildeten oder tatsächlichen Illusion, zwischen Zufall und Vorsehung.

Das stilistisch reinste Werk des Hyperrealismus ist dementsprechend ein Film, dessen Drehbuch es mit den stärksten Hervorbringungen der Literatur aufnehmen kann: »Wilde Erdbeeren« von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1957. Am Tag seines 50-jährigen Promotionsjubiläums fährt der greise Medizinprofessor Isak Borg mit dem Auto von Stockholm nach Lund. Während dieser Autofahrt verfällt er in Traumbilder. Am früheren Sommerhaus der Familie, an dem Isak zufällig haltmacht, gerät er in die Szenen früherer Sommerurlaube. Daraus entspinnen sich für ihn späte Einsichten in Familiengeheimnisse. In Bergmans Film ist der gesellschaftliche Mehrwert des Hyperrealismus überzeugend umgesetzt: Es geht nicht um eine philosophische Spekulation, wenn er den greisen Isak als realen Beobachter von biografischen Szenen des jungen Isak auftreten lässt. Aber man ahnt, dass hinter diesem Spiel ergiebige Einsichten für Isak warten, die mit ihm auch die Handlung in ganz neue Umlaufbahnen katapultieren.

Es lebe die Doppelexistenz: »Die zwei Leben der Veronika«
Es lebe die Doppelexistenz: »Die zwei Leben der Veronika«

Wie der Hyperrealismus funktioniert, lässt sich ebenfalls am besten anhand eines Films erklären: »Black Moon« von Louis Malle (1975). In einer Automobilfirma werden, nachdem eine Frau sexuell belästigt wurde, die Männer von den Frauen »bekriegt«. Die Frauen legen den Männern alle möglichen Steine in den Weg: Sie sind rüpelhaft zu ihnen, sie bilden immer wieder einen Mob und verprügeln die Männer, und sie stellen Autoteile fehlerhaft her, wofür dann Männer zur Verantwortung gezogen werden. Louis Malle macht ganz primitivistisch den Krieg zwischen Männern und Frauen zum Plot selbst, und diese unmögliche Figur erwirkt die fesselnde Kraft seines Films.

Es kommt dem Hyperrealismus also auf die Darstellung exakter Träume an, auf die Darstellung von Träumen, die einen hohen Realitätsgehalt besitzen, aber dennoch die Wirklichkeit auf den Kopf stellen können. Der Traum ist sozusagen die natürlichste Art des Hyperrealismus, sein Ursprung, und vielleicht rührt die literarische Kraft des Hyperrealismus daher, dass auch unsere Träume nicht selten das Format großer Erzählungen besitzen. So komme ich im Traum immer wieder zu Bildern, die von einem begabten hyperrealistischen Autor erdacht worden sein könnten. Ein Beispiel: Ein Mann fährt auf Skiern über den Asphalt eines Parkplatzes in einen Lkw, in dem sich ein zweiter Lkw befindet, auf den der Mann mit seinen Skiern wie selbstverständlich zusteuert. Der Hyperrealismus ist im Grunde die Wirklichkeit, um eine Stellschraube gelockert.

Bei mir schlägt die Stunde des Hyperrealismus gegen Mittag. Sie ist der High Noon meiner schriftstellerischen Arbeit, was ich mir so erkläre: Gegen Mittag überlagern sich die Bilder des Schlafens mit denen des Arbeitens, ebenso treten die Schatten des Feierabends hervor, der beide Bilder mischt und in sorgloser Betätigung aufwirbelt. So bringt diese Stunde oftmals Bilder von erstaunlicher Klarheit und Tiefenschärfe hervor, nach denen man lange vergeblich sucht.

Die Suche nach hyperrealistischen Bildern gleicht der Suche nach einem hitverdächtigen Song, sie ist ein hochspekulatives, ja ein spektakuläres Unternehmen. Dass der Hyperrealismus Eingang in die Massenkultur gefunden hat, verwundert deshalb nicht, weil er Unterhaltung und Anspruch perfekt versöhnen kann. Pink Floyds Album »Wish You Were Here« (1975) ist ein gelungenes Beispiel für diese Versöhnung. Im vierten Song des Albums, »Welcome to the machine«, wird der unerbittliche Alltag, diese typische Mixtur aus täglicher Arbeitsroutine und hastig nachgeholten Bedürfnissen, als das Bild einer Maschine gefasst. Der hyperrealistische Kunstgriff des Songs ist es nun, dieses Bild wiederum nicht in einen realistischen Plot zu übersetzen, sondern es stattdessen als das reale Eintreten eines jungen Menschen in eine Maschine zu erzählen. Im Booklet zum Album finden sich auch jene berühmten Fotografien der britischen Grafikdesignagentur Hypgnosis, die den Hyperrealismus anschaulich darstellen. Da ist der Händedruck zweier Geschäftsmänner, wobei einer von ihnen am ganzen Körper brennt. Und da ist ein Mann mit Bademütze, der bis auf den Kopf im Wüstensand steckt und seinen Arm im Kraulstil bewegt. Diese Fotografien zeigen, dass der Hyperrealismus mit ganz einfachen realistischen Zutaten arbeitet, die er in den Kontext einer unmöglichen Figur bringt.

In Deutschland hatte der Hyperrealismus lange einen schlechten Stand, er stand im Gegensatz zum durchsetzungsstarken, aber leicht verknöcherten Realismus der deutschen Nachkriegsliteratur. Spielerischen Grundton und philosophische Neugier suchte man oft vergeblich. Hyperrealistisch ist, wie in Michel Houllebecqs Roman »Unterwerfung« das Bild eines Frankreichs im Jahr 2022 unter der Herrschaft einer muslimischen Partei ausgemalt wird. Oder Lars von Triers Film »Melancholia« (2011), in dem nicht weniger als die Zerstörung der Erde durch den fiktiven Planeten Melancholia erzählt wird – ein hyperrealistischer Plot von besonderer Schlichtheit und Größe.

Ein sehr gutes Beispiel für die meisterhafte Beherrschung des Hyperrealismus ist Krzysztof Kieślowskis Film »Die zwei Leben der Veronika« (1991). In Krakau spürt Weronika auf eine kaum greifbare Weise, dass ihr Leben mit dem Leben eines anderen Menschen verbunden ist. Dieser Mensch existiert wirklich: Véronique teilt mit Weronika zwillingshaft Aussehen und Charakter wie den Beruf als Sängerin. Sie lebt allerdings nicht in Polen, sondern in Frankreich. Und es gibt auch gar keine fassbare, begreifbare Verbindungslinie zwischen diesen Frauen. Erst nachträglich, anhand von Fotografien, die Véronique während einer Polen-Reise gemacht hat und auf denen zufällig Weronika zu sehen ist, wird sich Véronique ihrer merkwürdigen Doppelexistenz bewusst. Mit dem fotografischen Beleg ist auch die größte Gefahr des Hyperrealismus gebannt: Durch seine starke Bildhaftigkeit droht er stets, allzu bedeutungsschwanger zu sein. Die Bändigung der reizvollen und ergiebigen unmöglichen Figuren, die der Hyperrealismus erzeugt, ohne dabei selbst in einen gebändigten Realismus zu verfallen, ist die artistische Hauptaufgabe.

Das hyperrealistische Werk, das mir selbst am besten gelungen ist, wie ich meine, ist mein Hörspiel »Black Box«: Durch den Nervenzusammenbruch des Piloten muss ein Verkehrsflugzeug vom Typ Boeing 767 auf dem Sportflugplatz eines Dorfes notlanden, der nicht für so große Flugzeuge ausgelegt ist. Mehr erzählt dieses Hörspiel eigentlich nicht, wenn man berücksichtigt, dass sich alles andere, die Beziehung des angeschlagenen Verkehrspiloten mit einer Frau aus dem Dorf, das Aufbrechen ihrer eigenen krisenhaften Lebensgeschichte, aus diesem Grundbild ergibt. Es ist ein Bild, das mir ebenfalls gegen Mittag kam, während einer Radtour. Das Befriedigendste an ihm war neben der unkomplizierten Erfindung die enorme suggestive Wirkung, die es erzeugt – und die Tatsache, dass man hervorragend mit ihm operieren kann. Jenes märchenhafte Auf-den-Kopf-Stellen der Welt ist eine der effektivsten erzählerischen Strategien.

Männern den Krieg erklären: Szene aus »Black Moon«
Männern den Krieg erklären: Szene aus »Black Moon«

Warum der Hyperrealismus heute wieder ein Thema ist, wo doch seine Hochphase im Kino und in der Populärkultur doch über 40 Jahre zurückliegt, hat verschiedene Gründe. Als eine negative Ursache kann das Vorherrschen jenes gebändigten, schablonenhaften Realismus genannt werden, der uns viel Langeweile und falsches Kunstgewerbe beschert. Er verdankt seinen Erfolg der falschen Annahme, dass man die Menschen in ihrer Realität abholen müsse, um sie zu erreichen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Denn positiv betrachtet besitzen wir eine jahrtausendealte Kompetenz im Lesen und Interpretieren von Bildern, die durch die medialen Entwicklungen der letzten Jahre noch einmal angewachsen ist. Bilder sind das historische Maß, in dem wir menschliche Erfahrungen austauschen. Beginnend mit den ersten Höhlenmalereien haben wir unsere Fähigkeiten im komplexen Darstellen der Welt anhand von Bildern immer weitergetrieben.

Für mich hat die Geschichte mit dem Hyperrealismus noch eine andere Pointe: Die Nähe meiner Generation zu ihm rührt nicht zuletzt von Kurt Cobain her. Er ist das Idol einer göttlichen Langeweile, die in den 90er Jahren aufkam, als die alten Entwürfe der Welt durch tiefe politische und gesellschaftliche Umwälzungen endgültig nichts mehr galten. So mussten wir uns als Angehörige einer überflüssigen Generation fühlen, der kein fester Platz in der Geschichte mehr zugedacht war und die deshalb eine besondere Art der traurigen Klarheit ausbildete. Und so wie Kurt Cobain seinen Aufstieg zum Rockstar erst akribisch plante und sich dann, als dieser vollzogen war, wie in einer überaus starken Geste des Hyperrealismus 1994 das Leben nahm – erst versetzte er sich eine Überdosis Heroin, dann erschoss er sich zusätzlich mit einer Schrotflinte –, so können wir heute giftige Bilder produzieren, Bilder von besonderer Klarheit, die in ihrer suggestiven Kraft verblüffen.

Für den Hyperrealismus in meiner Generation ist letztlich das Gefühl der Verlorenheit der 90er Jahre entscheidend, jene komatöse Schmerzensgeste, die damals die Grunge-Bands aus Seattle beispielhaft vorführten. Dieser komatöse Zustand, dieses entnervte Lebensgefühl des Grunge-Rock, diese Bilder von erstaunlicher Klarheit, sie waren unmittelbar dem Leben abgetrotzt und zeigen den Hyperrealismus in seiner politischen Sprengkraft. Nicht wenige Musiker der Grunge-Bands von damals sind heute tot. Und durch diesen bitteren Nachklang kann es auch keine einfache Erzählung geben, die brav realistisch fassen könnte, was sich damals eigentlich abspielte. Wir sind zu grimmig und gleichzeitig zu hysterisch für einen gebändigten Realismus.

Nur ein stummer Schrei der Verzweiflung ist uns geblieben, der uns als eine innere Stimme bis heute begleitet. So sind wir die Statthalter des Schmerzes in der Gegenwart. Und dieser Schmerz ist die Domäne des Hyperrealismus, der wie keine zweite Spielart der Literatur allein durch seine fiktiven Setzungen zu erzählen vermag. Er gleicht der stets verstimmten und verzerrten Gitarre im Grunge-Rock, die man nur einmal anschlagen muss und schon einen charakteristischen Sound hat. Wir sind Kinder des Positivismus, einer anderen Form des grimmigen Realismus, einer Welt also, die endgültig nicht mehr von einem Gott begleitet wird.

Dieser Positivismus führt uns nicht in die weinerliche Innerlichkeit anderer Generationen, in ihren bisweilen klebrigen Realismus, in ihre teilweise bornierte Selbstgefälligkeit. Das Verlagern unseres Blicks von innen nach außen, wo eine beschreibende Kälte herrscht, ist unsere Stärke – und jenes Element, das den Hyperrealismus zu einer relevanten Erzählweise macht. Die vielen Anhänger des gebändigten Realismus kommen uns deshalb als Geschäftsleute vor, und vermutlich sind sie auch solche. Wir aber schreiben nach Kurt Cobain, um uns die Seele aus dem Leib zu schreiben. Im Film wird mit einer ganz ähnlichen Entschlossenheit vorgegangen. Denn auch sein Auge, der Blick der Kamera, ist traurig und kalt. Und so müsste jede literarische Debatte der Gegenwart immer auch in Bezug auf den Film geführt werden, auf seine Erfolgsgeschichte, in seiner klaren Orientierung an der Außenwelt. An einer Außenwelt allerdings, die jeweils neu zu erfinden ist, weshalb der Originalität von Filmen und Fiktionen überhaupt auch keine Grenzen gesetzt sind.

Der Film ist sozusagen von sich aus hyperrealistisch, weil er nämlich Figuren zeigt, wo in der Literatur sonst Seelenregungen gezeigt werden. Diese Blickverlagerung ist das Erfolgsmodell der Fiktion in der Gegenwart, was auch unser aller Rezeptionsverhalten zeigt. Die so vermeintlich unbelesenen Zeitgenossen besitzen ein hohes Maß an fiktionaler Kompetenz, das sie sich schauend erworben haben – im Film. Sie sind bereit, mehrere Stunden lang einer komplexen Fabel zu folgen – im Film. Und sie lassen sich auf existenzielle Gleichnisse ein, die wie gute Literatur die Grundfesten ihres Lebens erschüttern können – im Film.

So ist der Film das, was die Rockmusik für den Grunge-Rock ist: eine unvollkommene, aber verbindliche Vorform. Trotzdem verdankt der Hyperrealismus seine Berechtigung als relevante Spielart der Literatur den Möglichkeiten des Films und seiner impliziten Botschaft, die auf eine Art neugierige Gottlosigkeit hinausläuft.

Und nur so kann ich Folgendes sagen: Der Hyperrealismus ist für mich das schriftstellerische Tor zur Welt, ein mögliches Bild des tatsächlichen Lebens in seinen scheinbar unmöglichen Varianten. Ein Märchen des Lebens und ein effektives schriftstellerisches Verfahren dazu. Vielleicht ist er damit tatsächlich das, was ich am Anfang dieser Zeilen behauptet habe: eine Literatur irgendwo zwischen Gonzo und Klassik.

Eine zeitgemäß starke Mischform jedenfalls, die gegen die faulen Konventionen des Lebens und der Fiktion anstürmt. Und egal ob dieser Anspruch nun bedeutungsschwanger klingt oder nicht: Eine Literatur, die auf starke Bilder verzichtet, ist eine Literatur, die ihre Potenziale verspielt hat. Und dafür haben wir nun wirklich kein Verständnis.

Jan Decker, Jahrgang 1977, ist Schriftsteller und lebt in Wien. Zuletzt erschien von ihm »Grenzgänge. Drei Features« im Trottoir Noir Verlag

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