Brandtschutzwochen und übererfüllte Pläne

Über Propaganda und Agitation in der DDR und im damaligen SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«

Delegierte beim Sonderparteitag der SED 1989 in Berlin
Delegierte beim Sonderparteitag der SED 1989 in Berlin

Sucht man im Internet nach dem Begriff Propaganda, dann sind die Ergebnisse ziemlich einseitig: Vor allem stößt man in deutschsprachigen Medien auf Texte, die mit den Formulierungen Putin-Propaganda, Hamas-Propaganda und Hisbollah-Propaganda zu tun haben. Propaganda, das soll etwas Verachtenswertes, Unanständiges sein, das nur der Feind oder Gegner betreibt. Dass auch in der Politik und den Medien des Westens Propaganda betrieben wird, wird in verzerrter Selbstwahrnehmung unterschlagen.

Aber Propaganda im politischen Raum wurde nicht immer als Negativum betrachtet. In den realsozialistischen Staaten war sie ein bewusst eingesetztes Instrument der Meinungsbildung und Machtsicherung. Das basierte im Wesentlichen auf den Schriften des russischen Revolutionsführers Lenin über Partei und Parteipresse, in denen die Begriffe Agitation und Propaganda eine zentrale Rolle spielen. Sie sind bei Lenin Teil eines Dreiklangs: »Eine Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator; sie ist auch ein kollektiver Organisator.« Ein Grundsatz, der in der DDR und an vorderster Stelle für das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« galt.

Medaille »Für hervorragende propagandistische Leistungen«

Dieses Diktum hatte strukturelle Konsequenzen. Im Zentralkomitee der SED gab es einen Sekretär für Agitation und Propaganda (wie auch auf unteren regionalen Leitungsebenen und in anderen Organisationen). Gewiss war es kein Zufall, dass mit Hermann Axen, Rudolf Singer, Joachim Herrmann und Günter Schabowski in den 60er bis 80er Jahren ND-Chefredakteure in einflussreiche Partei- und Staatsämter aufstiegen. Es gab einen Verlag für Agitation und Propaganda, eine Medaille »Für hervorragende propagandistische Leistungen«. Über die Abteilungen für Agitation und Propaganda im SED-Zentralkomitee wurden die DDR-Medien angeleitet, was bedeutete, dass die Chefredakteure regelmäßig zur Anleitung und Einweisung antanzen mussten, wo ihnen diktiert wurde, was zu schreiben und zu sagen, was wie zu interpretieren und was wegzulassen ist.

Die Unterscheidung zwischen Propaganda und Agitation war eine allenfalls theoretische Frage. In der Praxis waren die Grenzen fließend. In jedem Fall ging es um Meinungs- oder – wie man heute sagen würde – Diskurshoheit. Dabei simulierten die SED-Führung und ihre Medien eine einheitliche Gesellschaft, wie sie sie gern gehabt hätten. Noch auf dem letzten regulären SED-Parteitag 1986 erklärte Generalsekretär Erich Honecker, die DDR-Medien informierten »umfassend über unsere Politik, über das innen- und außenpolitische Geschehen«. Und als das »ND« im selben Jahr aus Anlass des 40. Jahrestages seiner Gründung den Karl-Marx-Orden erhielt, hieß es im Glückwunschschreiben, das Blatt leiste »seinen Beitrag dafür, dass Partei und Volk in festem Vertrauensverhältnis miteinander verbunden sind«.

Versorgungsprobleme versus Erfolgspropaganda

Umfassende Information, festes Vertrauensverhältnis – das blieben Behauptungen. Denn nicht nur, wer in den DDR-Medien arbeitete, wusste, was alles weggelassen wurde, worüber nicht geschrieben und berichtet werden sollte und durfte. Die in der DDR bekannte Formulierung »zwischen den Zeilen lesen« meint genau diese Lücken, in denen verschwand, was nicht ins gewünschte Bild passte. Umweltschäden, Versorgungsprobleme, Leute, die in den Westen wollten, Meinungsfreiheit, teils marode Infrastruktur – die Liste ließe sich fortsetzen und steht in deutlichem Kontrast zur unablässigen Erfolgspropaganda über erfüllte und übererfüllte Pläne.

DDR-Politik und -Medien simulierten eine einheitliche Gesellschaft, die sie gern gehabt hätten.

Propaganda in DDR-Medien und im damaligen »ND« setzte sich einerseits mit dem Klassenfeind auseinander, vor allem mit der Bundesrepublik, deren Führung in früheren Jahren gern als Bonner Ultras bezeichnet wurde. Wobei es auch Ausnahmen gab: Wenn etwa Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt vor Bundestagswahlen unterstützt werden sollte, wurde auf Anordnung in den DDR-Medien die Polemik gegen den SPD-Mann zurückgefahren. In den Redaktionen war dann von »Brandtschutzwochen« die Rede. Solche Rücksichtnahmen galten namentlich fürs »ND«, das eben nicht nur Parteiorgan und Tageszeitung war, sondern auch eine Art Staatsanzeiger, der im Ausland genau gelesen wurde.

Polemik mit dem Feind, Polemik mit dem Freund

Öffentliche Kritik war genau in den erlaubten Grenzen möglich. Im Journalistikstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig wurde künftigen Medienleuten der Unterschied zwischen Polemik mit dem Feind (die zugespitzt, auch mal aggressiv sein sollte) und Polemik mit dem Freund beigebracht (die helfenden Charakter haben sollte, was sofort eine innere Zensur bedeutete). Das Motto »An allem ist zu zweifeln«, das Karl Marx seinen Töchtern ins Poesiealbum schrieb, galt jedenfalls nicht für die innenpolitische Berichterstattung in der DDR. Kritik wurde zuweilen auch organisiert. Als 1976 der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert worden war, erschienen im »ND« tagelang jeweils mehrere Seiten voller weitgehend bestellter Empörungs-Stellungnahmen über Biermann, aber keine einzige Kritik an der Ausbürgerung.

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Letztlich war das, was diese Propaganda als ihre Stärke betrachtete – ihre Unangefochtenheit, ihr Gültigkeitsanspruch –, ihre Schwäche: Indem sie sich als einzig wahr erklärte, war das Bemühen um das bessere Argument nicht nötig, es wurde einfach behauptet. »Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist« – dieser Satz Lenins wurde in der Propaganda der DDR zum Inbegriff der Selbstbezogenheit. Zur hohlen Phrase, deren Pathos über Funktionärskreise hinaus niemand ernst nahm.

Dass es ein Interesse an Auseinandersetzung gab, zeigte sich immer dann, wenn sich der geschlossene gesellschaftliche Rahmen etwas öffnete. Beispielsweise, als im Rahmen der Verhandlungen über die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki Mitte der 70er Jahre über Menschenrechte und Pressefreiheit diskutiert wurde. Oder als bei der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas 1976 in Berlin auch von der Moskauer Linie abweichende Positionen ihren Raum bekamen. Oder als SED und SPD Mitte der 80er Gespräche zum Thema »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« führten. In all diesen Fällen wurden die entsprechenden Reden und Dokumente im »ND« veröffentlicht; es waren Ausgaben, die weit über die übliche Leserschaft hinaus Interesse weckten. Es war noch längst keine offene Debatte, aber die Tür hatte sich immerhin für einen Moment einen Spalt geöffnet.

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