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Berlinale: Wenn das Blut sprudelt

Gewalt und Scherz in BRD und DDR: Die Berlinale-Retrospektive zeigt den Genrefilm der 70er Jahre

Lasst die langen Haare im Wind flattern: »Rocker« von Klaus Lemke, 1972
Lasst die langen Haare im Wind flattern: »Rocker« von Klaus Lemke, 1972

Die goldenen Siebzigerjahre waren ein freies Jahrzehnt und ein brutales Jahrzehnt. Zwar hatte die 68er-Revolte keine Revolution hinbekommen, aber doch zumindest den Glauben daran verfestigt, dass sich die Gesellschaft grundlegend zum Besseren entwickeln würde – in West wie Ost. Vernunft und Fantasie standen hoch im Kurs. Auch wenn sich nicht die Produktionsweise veränderte, sondern nur der Lebensstil, war man nie wieder derartig utopisch und optimistisch unterwegs wie damals.

Die Lebendigkeit dieses Jahrzehnts merkt man nicht nur in der Popmusik, in der hintereinander Glam, Disco, Punk und Hip-Hop erfunden wurden, sondern in einer grundsätzlichen Verfeinerung des Lebensstils in Fragen der Ernährung, des Urlaubs, des Wohnens und der Sexualität, vorangetrieben durch die Mittelschicht an der Massenuniversität.

Es wurde viel experimentiert und diskutiert, soziale Gerechtigkeit, der Kernbegriff der damals mächtigen Sozialdemokratie wie auch der Neuen Sozialen Bewegungen links davon, galt als durchsetzbar, auch wenn sich oft nur die Frisuren von Männern und Frauen anglichen: lange Mähnen überall. So wie der Wind die langen Haare mitunter auseinander blies, sollte auch die Gesellschaft durchgepustet werden, damit die Menschen endlich freier atmen konnten.

Denn die fortschrittlichen Ideen stießen auf eine rückschrittliche, reaktionäre Gesellschaft, getragen von dumpfer männlicher Gewalt in vielfältiger Form, egal ob im Proletariat oder im Bürgertum. Die Kinder wurden geschlagen, die Frauen wurden geschlagen, die Schwachen wurden misshandelt und verachtet. In den 70ern waren die Stumpfheit und die Offenheit parallele Phänomene, feststellbar in den Familien, Firmen, Schulen und Kneipen. Beides zusammen ist in der Retrospektive der diesjährigen Berlinale zu besichtigen, die sich dem deutschen Genrefilm der 70er Jahre widmet, Deutsch meint hier Filme aus der BRD und der DDR. Sie laufen unter dem Motto »Wild, schräg, blutig« und sollen gleichermaßen Verwandte des Neuen Deutschen Films der 60er Jahre wie der US-amerikanischen Exploitationfilme der 70er Jahre sein. Diese Autorenfilme waren durchaus kommerziell gemeint, wenn sie in überwiegend roher Ausgestaltung Gewaltverhältnisse thematisieren, was man durchaus als damalige einfache, aber effektive Ideologiekritik verstehen kann. Zumal Soziologie in den 70er Jahren das Modefach an den Universitäten war.

Selbst ein brutaler Bankräuber sagt dann solche Sätze wie: »Verbrechen ist nicht Ursache, sondern Konsequenz einer Entwicklung«, gespielt vom damaligen Star-Macho Raimund Harmstorf in »Blutiger Freitag« (1972) von Rolf Olsen. Zwischen Trash und Tiefsinn sprudelt dann zum Schluss, als er von der Polizei auf der Flucht erschossen wird, das Blut aus seinem Bauch wie aus einem kleinen roten Springbrunnen, direkt auf die Banknoten vor ihm, die ihm aus dem Geldsack gefallen sind, als er zu Boden ging. Bevor er mit seiner Bande die Bank überfällt, erklärt er das Vorgehen: »Sie müssen uns für dumm und brutal halten, sonst wird uns nicht geglaubt.« Und so benehmen sie sich dann auch. Als sie in der Bank Geiseln nehmen, versammeln sich draußen Schaulustige, die dann von einem Radioreporter interviewt werden: »Aufhängen sollte man die«, wird da gefordert, oder: »Da gibt’s nur eins: Todesstrafe!«

In »Mädchen mit Gewalt« (1970) von Roger Fritz sagt Helga Anders über Rolf Zacher als verspielten Hippie: »Rolf ist völlig unaggressiv, ich finde das schön«. Doch gerät sie an zwei aggressive Freunde, gespielt von den noch sehr jungen Klaus Löwitsch und Arthur Braus, die sie vergewaltigen und die dann versuchen, sich gegenseitig umzubringen. Das hat etwas Absurdes wie Abstoßendes und zeigt eine toxische Männlichkeit, die die Menschen auffrisst. Gefilmt wie ein minimalistischer Western in einem verlassenen Steinbruch, bildmächtig und mit pathetischen und bizarren Dialogen.

Mit Roland Klicks Klassiker »Deadlock« (1970) läuft ein weiterer existenzialistisch gemeinter Deutsch-Western in der Retrospektive. Irgendwo in einem nachgebauten Amerika, gefilmt in der israelischen Negevwüste, streiten sich Bankräuber um die Beute. Es treten nur sieben Personen auf, von denen vier sterben. Neben dem Organhandel-Krimi »Fleisch« (1979) von Rainer Erler, der ebenfalls in den USA spielt (und auch da gedreht wurde) und »Die Zärtlichkeit der Wölfe« (1973), Ulli Lommels expressionistisches Drama über den Serienmörder Fritz Haarmann, sozusagen ein Fassbinder-Film ohne Fassbinder (obwohl der dann doch in einer Nebenrolle mitspielt), sind das die bekanntesten westdeutschen Filme, die präsentiert werden. Klaus Lemkes »Rocker« (1972), gefilmt für das ZDF mit Laien aus dem Hamburger Kiez, kam über seinen Legendenstatus unter Fans und Eingeweihten nie hinaus. Es ist ein immer noch starker Film über ritualhaft-routinierte männliche Gewalt, die leerläuft. Der Chef der Rocker weint erst, als ein Lastwagenfahrer sein neues Motorrad überfährt und zerstört, weil er vorher gedemütigt wurde. Dazu Musik von den Rolling Stones – das wäre heute unbezahlbar, aber vielleicht kannte der Untergrundfilmer Klaus Lemke jemanden, der die Rolling Stones kannte und ihm billig die Rechte zuschusterte?

Der blutig-dramaturgische Ernst dieser Filme wird nicht nur von Komödien wie »Lady Dracula« (1978) von Franz Josef Gottlieb (eine Vampirin arbeitet in einem Bestattungsunternehmen) oder »Männer sind zum Lieben da« (1970) von Eckhart Schmidt (Frauen können Männer nach dem Sex schrumpfen und in einen Koffer einpacken) konterkariert, sondern vor allem von den ostdeutschen Filmen. Gegenüber der westlichen Wir-hauen-uns-gegenseitig-die-Köpfe-ein-Atmosphäre erscheint hier die DDR als friedlicher, geradezu heiterer Ort. Ein Land, das sich mitunter auch über seine eigene gesellschaftliche Borniertheit, über den bürokratischen Willen zur tendenziellen Verplanung des gesamten Lebens, slapstickartig lustig machen konnte, wie »Nelken in Aspik« (1976) von Günter Reisch beweist. Darin schweigt sich Armin Müller-Stahl in der Karriere nach oben – ausgerechnet in der Werbewirtschaft. Ein Zeichner, der sonst nur Unsinn erzählt, ist wegen plötzlichen Zahnproblemen zum Schweigen verdammt und bringt es so bis zum Generaldirektor, dem einsame Genialität nachgesagt wird. Opportunismus kann sehr witzig sein. Als er wieder sprechen kann, geht es logischerweise bergab.

Bemerkenswert ist auch der fröhliche Feminismus der selbstbewussten werktätigen Frau, sowohl im Kfz-Betrieb, in »Hut ab, wenn du küsst« (1971) von Rolf Losansky, als auch im frühen Frauenfußball in »Nicht schummeln, Liebling!« (1973) von Joachim Hasler. In diesem knallbunten Musical aus einem sonnigen Provinzort namens Sonnethal über Sozialismus, Sport und Paarbeziehungen gerät das kleinbürgerliche Leben in Schwingungen. Sehr vieles scheint möglich, nicht nur die Liebe zwischen dem damaligen Popstar-Ehepaar Frank Schöbel und Chris Doerk, die hier in verschiedenen Peergroups gegeneinander antreten, aber natürlich zusammen singen.

In diesem Film wirkt der lockere Enthusiasmus der Weltfestspiele in Ostberlin 1973, gefasst als Konflikt um Geld und Ressourcen zwischen einem Bürgermeister (Karel Fiala), der nur den lokalen Fußballklub im Kopf hat und der neuen Hochschuldirektorin (Doris Gäbler), die in die Stadt kommt und der die Dienstwohung verweigert wird, weil die für einen Fußballtrainer vorgesehen ist. Sie will sich das nicht bieten lassen – um gehört zu werden, gründet sie eine Frauenfußballmannschaft. Ein sensationeller Move gegen die Männergesellschaft. Da fegt einem glatt der neue Wind durch die langen Haare. Vielleicht sollte man sich seine eigenen wieder wachsen lassen, um dafür ein Gefühl zu kriegen?

Die Retrospektive wird am Freitag mit »Die Zärtlichkeit der Wölfe« eröffnet, um 20.30 Uhr in der Deutschen Kinemathek

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