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- 100 Jahre Johannes Agnoli
Auf der Suche nach der Revolution
Eine Publikation im Dietz Verlag würdigt Johannes Agnoli zum 100. Geburtstag.
Sie waren die »Kinder der Nazis«: So lautet eine gängige Beschreibung der »68er«-Generation, gern auch von rechts. Was biografisch in vielen Fällen stimmt, taugt deshalb noch lange nicht zur Bestimmung der globalen Politisierungswelle, die im Laufe der 1960er Jahre auch Europa und die Bundesrepublik erfasste. Tatsächlich war die Neue Linke, wie der akademische Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO) bald genannt wurde, altersmäßig divers. Grob kann hier unterschieden werden zwischen denjenigen »68ern«, die während oder sogar vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden sowie den Jüngeren, deren Geburtsjahr nach 1948 liegt. Hier wird etwas sehr Wichtiges deutlich: Die politische Stellung zu den Verhältnissen ist nicht hauptsächlich formal-determiniert, sondern inhaltlich-willensbestimmt; eine Positionierung eben. Ein hervorragender Beleg für diese Tatsache sind Leben und Werk von Johannes Agnoli, marxistischer Politikwissenschaftler und öffentlicher Intellektueller, Deutsch-Italiener, Jahrgang 1925.
Zum Anlass von Agnolis 100. Geburtsjahr erschien nun im Dietz-Verlag das Büchlein »Johannes Agnoli, oder: Subversion als Wissenschaft«; es versammelt einen einführenden Essay des Herausgebers Michael Hewener sowie eine Auswahl kurzer Texte des Politikwissenschaftlers. Im Zuge der Darstellung von Leben und Werk wird die spezifische Weise deutlich, in der sich beides im Falle Agnolis gegenseitig bedingt.
Eine deutsch-italienische Geschichte
Das Skandalöseste zuerst: Johannes Agnoli war einmal Faschist. Obwohl in Italien geboren, trat er 1943 der deutschen Wehrmacht bei. Während er aus seiner Täterschaft im Gegensatz zu vielen anderen Deutschen nie ein Geheimnis machte, »hat Agnoli nie davon gesprochen, an direkten Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein oder sie unmittelbar miterlebt zu haben«, wie Hewener schreibt. Dabei gehörte er einem Gebirgsjägerregiment in der Umgebung von Triest an, das nachweislich zur Partisan*innenbekämpfung eingesetzt wurde. Ebenfalls im Triester Umland errichtete die SS zudem im Oktober 1943 das KZ Risiera di San Sabba – ein eher wenig bekanntes Konzentrationslager, das übrigens auch Schauplatz des Romankonvoluts »Heldenfriedhof« von Thomas Harlan ist, dem Sohn von Veit Harlan, NS-Propagandist und Regisseur des antisemitischen Propagandafilms »Jud Süß« (1940). Johannes Agnoli und Thomas Harlan sind nahezu gleich alt, Jahrgänge 1925 und 1929, beide verbringen ihre Kindheit und Jugend im Faschismus, beide stellen sich schließlich als kommunistische Intellektuelle in die Öffentlichkeit – und sind doch grundverschieden. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Agnoli jedenfalls begibt sich nach dem Zweiten Weltkrieg – zu dem Zeitpunkt noch so »deutschlandbegeistert« wie schon als jugendliches Mitglied der faschistischen Gioventù Italiana del Littorio (GIL) – nach Baden-Württemberg. Nach einigen Jahren in britischer Kriegsgefangenschaft, wo er trotz seiner rechten Gesinnung zur Entnazifzierung eingesetzt wird, beginnt der mittlerweile deutsche Staatsangehörige in den mittleren 1950er Jahren ein Philosophiestudium in Tübingen. Die wichtigsten Lehrpersonen sind hier zunächst »der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger, ein ehemaliger Stahlhelm-Aktivist, und der Politologe Theodor Eschenburg, von dem erst Jahre später bekannt wurde, dass er als Anwalt an Arisierungen beteiligt gewesen sein soll«. Wie kommt nun so einer wie Agnoli dazu, schließlich doch noch »sein ganzes Leben«, wie Hewener schreibt, der Staats- und Parlamentarismuskritik zu widmen? Und wann und wie beginnt dieses neue Leben?
Die Antwort lässt Agnoli direkt als typischen »68er« erscheinen: im Universitätsbetrieb der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Nach seinen rechten Anfängen kommt er in Tübingen offenbar schnell auch in Kontakt mit Sozialdemokrat*innen, der KPD und marxistischer Literatur. »Ein erster öffentlicher Beleg seiner wirklichen politischen Wendung zum Kommunisten«, so Hewener, findet sich bereits 1956 in dem »FAZ«-Artikel »Faust – Hitler – und das liebe Gretchen«, der auch im zweiten Teil des Dietz-Büchleins abgedruckt ist. Agnolis konkrete Form der Auseinandersetzung mit seiner Biografie nennt Hewener »eigene Vergangenheitsbewältigung«: Er habe nicht die eigene Schuld ins Zentrum gestellt, sondern sich theoretisch an den Ideologien abgearbeitet, die »den Faschismus attraktiv erscheinen« lassen und auch ihn selbst als Jungfaschisten geprägt hatten.
Ist Agnolis Nicht-Auseinandersetzung mit der persönlichen Involviertheit problematisch? Zumal aus der Perspektive der heutigen Linken, in der Moralismus häufig anstelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung steht, scheint Heweners Einschätzung nachvollziehbar: »Es ging ihm in seiner öffentlichen Vergangenheitsbewältigung nicht um persönliche Vergebung, sondern um Aufklärung gegen das Wiedererstarken des Faschismus.« Und sein Werk räumt tatsächlich jeglichen Zweifel daran aus, man könne es mit rechtem Gedankengut zu tun haben; es verschreibt sich vollkommen der kritischen Durchdringung der bürgerlichen Gesellschaft – ihre drastischste Herrschaftsform, den Faschismus, eingeschlossen. Anders gesagt: Der Johannes Agnoli, dessen Werk und Leben hier zur Debatte steht, war Antifaschist.
Analyse statt Schulderklärung
Und damit kommen wir noch einmal zurück zum Biografischen. In den mittleren 1950er und frühen 1960er Jahren etabliert sich Agnoli als kritischer Politikwissenschaftler, tritt 1962 eine Professur am Otto-Suhr-Institut (OSI) an, der »roten Kaderschmiede« an der Freien Universität Berlin. Ab der Mitte der 1960er Jahre wendet er sich voll der Staats- und Parlamentarismuskritik zu und verfasst gemeinsam mit dem APO-nahen – und 1977 von schwerer Repression betroffenen – Psychologieprofessor Peter Brückner eines seiner Hauptwerke, die »Transformation der Demokratie«, das sich unter anderem kritisch mit der Mainstream-Politologie auseinandersetzt.
Aber Agnoli ist, wie nicht wenige kritische Professor*innen der Zeit, auch politisch aktiv, in den 1960er Jahren hauptsächlich im Kontext der APO. Als in dem von ihm mit gegründeten »Republikanischen Club« die Arbeiter*innen ausbleiben, versucht er – derweil sind die 1970er Jahre angebrochen – italienische Gastarbeiter*innen in Wolfsburg im Klassenkampf zu unterstützen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. (Auch dies eine typisch deutsche »68er«-Erfahrung, von der auch heutige Linke noch ein Lied singen können.) Die restlichen Siebziger verbringt Agnoli mit Forschungsaufenthalten in Italien und Deutschland, schreibt für die italienische Zeitschrift »Critica del Diritto« (»Kritik des Rechts«) und knüpft Kontakte zur linkskommunistischen Bewegung des Operaismus. In Italien wird er schließlich auch Zeuge einer starken, militanten Arbeiter*innenbewegung, wie sie in Deutschland zu der Zeit nicht denkbar war – es allerdings auch im gegenwärtigen Italien nicht mehr ist.
Gähnende Leerstelle in Agnolis ansonsten solide materialistischem Werk: das Patriarchat.
Wohl auch auf der Basis des vergleichenden Blicks Italien-Deutschland verfasst Agnoli sein wichtigstes Buch, »Der Staat des Kapitals«, das 1975 erscheint. Hier bestimmt er die Befriedung der Klassenkämpfe als eine der wichtigsten Aufgaben des bürgerlichen Staates – und zwar die, in der er über wirkliche politische Autonomie verfügt, während er die kapitalistische Ökonomie und ihre Krisen letztlich vor allem verwalten kann. Er bestimmt den Staat in seiner Funktion als ideellen Gesamtkapitalisten und stellt in dem Zusammenhang auch klar, dass dieser »kein neutrales Instrument« ist, »das je nach herrschenden Kräfteverhältnissen benutzt werden kann«, wie Hewener schreibt. Mit dieser wichtigen Zurückweisung auch der Möglichkeit eines sozialistischen, »guten« Staates nimmt Agnoli innerhalb der Neuen Linken durchaus eine Sonderstellung ein. Agnolis Karriereende fiel auf den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten; die letzten Sätze seiner Abschiedsvorlesung kritisieren hellsichtig die Ideologie vom »Ende der Geschichte«, 1990 veröffentlicht er in der Zeitschrift konkret seinen Aufsatz »Destruktion als Bestimmung des Gelehrten in dürftiger Zeit«, eine konsequente »Absage an konstruktive Teilhabe an den Verhältnissen«. Auch dieser Aufsatz ist im Dietz-Bändchen vollständig abgedruckt.
Gähnende Leerstelle in Agnolis ansonsten solide materialistischem Werk: das Patriarchat. Hier ist er leider keine Ausnahme, trotz »Sexueller Befreiung« bestand auch die Neue Linke vielfach aus Männerbünden. Unwillkürlich drückt sich dies auch in Heweners Essay ab, in Form einer totalen Männerdominanz in Hinblick auf die erwähnten Theoretiker. Entsprechend positiv sind seine – wenn auch eher subtil eingestreuten – patriarchatskritischen Hinweise: etwa, dass der junge Agnoli »Affären mit einigen Frauen« hatte und »einen dementsprechenden Ruf« erwarb, sich bei einem Professor »Geld für eine Abtreibung« lieh. Schließlich begann er ein Verhältnis mit der 13 Jahre jüngeren Studentin Barbara Görres, die er später heiratete. In der ersten und einzigen Nennung einer weiblichen Autorin wird Görres mit folgenden Worten zitiert: »Sie hätten in ihrer Ehe sehr klassische Auseinandersetzungen geführt, so Agnolis Frau Barbara in ihrer Biografie über ihren Mann: Ob sie arbeiten gehen sollte oder nicht; wer zu politischen Terminen ausgehen könne und wer zu Hause auf das erste Kind, die 1965 geborene gemeinsame Tochter Babette, aufpassen müsse. Die Reproduktionsarbeit sei meist bei ihr hängen geblieben.« Geradezu erschütternd ist der Blick ins angehängte Personenregister: Unter den 87 Personen sind sage und schreibe vier Frauen. Wie sehr Agnolis Weigerung, sich mit Sexismus und übrigens auch Rassismus theoretisch auseinanderzusetzen, seinem Werk schadet – dazu kann sicher noch einiges Produktives aufgeschrieben werden.
Lest Agnoli!
Den letzten Abschnitt seines Essays übertitelt Hewener mit »Was bleibt?« – und schreibt, Agnolis Werk werfe »viele Fragen auf und bietet keine einfachen Antworten«. Dem möchte ich widersprechen. Zwar sind die Gegenstände seiner Untersuchungen komplex, aber Agnoli bearbeitet sie mit Klarheit und vor allem mit deutlicher Positionierung: etwa das Verhältnis von Staat und Ökonomie, von Faschismus und Kapitalismus; die Gewaltfrage und den Pazifismus; die Rolle des Journalismus, die Öffentlichkeitsbildung; Imperialismus und Krieg; der Antifaschismus und seine bürgerliche Unmöglichkeit.
Und was unter diesen gesellschaftskritischen Grundthemen natürlich nicht fehlen darf: die ewige Frage nach dem Verhältnis der Linken zum Parlamentarismus. Auch damit hat sich Agnoli befasst, und hierzu sei er aus gegebenem Anlass nun noch einmal direkt zitiert. Im Jahr 1969 hält er in dem Text »Journalismus in der APO« Folgendes fest: Die »Beteiligung am Parlamentarismus verlangt eine bestimmte soziale Verhaltens- und politische Aktionsweise. Die Parlamentspartei will nicht desintegrieren, sondern legislative Arbeit machen. Es liegt nicht in ihrem Interesse noch in der Verbesserung ihrer Funktionalität, Massen durch Bewusstmachung ihrer Situation aktiv zu radikalisieren. Vielmehr muss sie eine passive Radikalisierung zu erreichen versuchen; das heißt, sie wird aus ihr eine passive Wahlkonsumenten-Masse machen, die sich für radikale Kandidaten entscheidet. Ihre ganze Organisation wird zwingend den Charakter des Apparats annehmen, in den sie sich einbauen will.« Dies ist die Wahrheit, und auch wenn unsere Gegenwart tatsächlich nach einer progressiven Kraft im Parlament zu verlangen scheint: Die Linke tut gut daran, sich diese Worte hinter die Ohren zu schreiben. Sie hat es schon zu oft nicht getan.
Michael Hewener (Hg.): Johannes Agnoli, oder: Subversion als Wissenschaft. Karl Dietz Verlag Berlin 2025, 175 S., br., 14 €.
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