Argentinien: »Wir werden weiterhin dringend gebraucht«

Das Netzwerk »Socorristas en Red« organisiert in Argentinien seit mehr als zehn Jahren Schwangerschaftsabbrüche – der neue Gegner: die Regierung Milei

  • Socorristas in Red, Magazin ila, Nachrichtenpool Lateinamerika
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Feministischer Kampftag – Argentinien: »Wir werden weiterhin dringend gebraucht«

Socorristas, das heißt auf Deutsch übersetzt »Retterinnen«. Die »Socorristas en Red«, eine 2012 gegründete feministische Organisation, unterstützen in Argentinien Frauen, Mädchen, trans* Männer und nichtbinäre Personen ehrenamtlich, eine vergleichsweise sichere und kostengünstige Abtreibung mit Tabletten selbst vornehmen können. Mit den zwei Wirkstoffen Misoprostol und Mifepriston geht das in der Regel problemlos bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. »Wir widersetzen uns dem Gesundheitssystem, dem Justizsystem, dem staatlichen System und der Aufforderung des ›Misch dich nicht ein‹. Zwischen 2012 und 2024 haben wir jedes Jahr zwischen 12 000 und 15 000 Personen begleitet. Also insgesamt zwischen 150 000 bis 160 000«, so die Aktivistin Ruth Zurbriggen. Eine beeindruckende Zahl.

Ende Januar war Ruth Zurbriggen für die Veranstaltung »Abtreibungsbegleitung in Zeiten einer globalen Rechten« der Zeitschrift »ILA« aus Bonn und dem Medienprojekt »Nachrichtenpool Lateinamerika« e. V. nach Berlin gekommen. »Ich bin organisiert im Kollektiv ›La Revuelta‹ in Neuquén, einer Stadt in Patagonien. Auf unsere Initiative hin gründete sich ›Socorristas en Red‹, zu der heute rund fünfzig Gruppen im ganzen Land gehören«, erklärte die Argentinierin dem Publikum. »Ich bin seit Beginn dabei. Außerdem bin ich noch Lehrerin, Bildungsaktivistin und Teil eines Netzwerks von Abtreibungsaktivist*innen aus Lateinamerika und der Karibik.« Aus Argentinien hatte sie einiges mitgebracht: lilafarbene und grüne Halstücher, die Erkennungszeichen der feministischen Bewegung und der Kampagne für das Recht auf Abtreibung in dem südamerikanischen Land, die als »grüne Flut« bekannt wurde. Außerdem Sachbücher, Erfahrungsberichte und Gedichtbände, die sich mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigen, und einige Packungen mit Sexspielzeugen für weibliche Körper, als Geschenk an die Teilnehmenden. First come, first serve.

Choreographie der Solidarität

Doch wie geht das eigentlich vor sich, eine sichere, begleitete Abtreibung? Ruth Zurbriggen beschrieb den Teilnehmenden der Veranstaltung anschaulich Schritt für Schritt den Weg, den die Betroffenen gehen. Per Telefon, Social Media oder Internetplattformen suchen sie Kontakt zu einer lokalen Gruppe der Socorristas. Ein erstes Telefonat hilft, Ängste abzubauen. Im Anschluss daran gibt es einen Vor-Ort-Termin mit mehreren Personen, die ebenfalls eine Abtreibung durchführen wollen. In Neuquén, bei der Gruppe, in der Ruth aktiv ist, gibt es dafür ein eigenes Gebäude und mindestens zwei Veranstaltungen pro Woche. Zwei Aktivist*innen der Socorristas erklären dort, wie die Einnahme der Medikamentenkombination zu erfolgen hat und nehmen anonymisierte Daten der Teilnehmenden auf. In Zusammenarbeit mit einer argentinischen Universität ist dadurch eine umfangreiche Datenbank entstanden, die Aufschluss darüber gibt, aus welchen Gründen sich Menschen für eine Abtreibung entscheiden. Bei der anschließenden Durchführung des Abbruchs steht jeder Betroffenen immer eine Aktivist*in zur Seite. Sie bietet ihre eigene Wohnung an, wenn sonst kein sicherer Ort vorhanden sein sollte. Telefonisch ist sie rund um die Uhr erreichbar. Auch bei Ruth ploppen an diesem Abend immer mal kurze Nachrichten auf ihrem Handy auf, von zwei Frauen, für die sie gerade die Ansprechperson ist und die gerade auf der anderen Seite des Atlantiks eine Abtreibung vornehmen. So zeitnah wie eben möglich, wenn man gerade einen Vortrag hält, antwortet sie auf deren Fragen.

Sollte es während der Abtreibung Komplikationen geben oder die Person bereits in einer fortgeschritteneren Phase der Schwangerschaft sein, stellen die Socorristas Kontakte zu vertrauenswürdigen Ärzt*innen her. Und immer öfter organisieren sie gleichzeitige Abtreibungen von mehreren Frauen an einem Ort. So wird das immer noch tabubesetzte Ereignis positiv umgedeutet. »Abtreibungen sind kein ›geringeres Übel‹, man muss sich nicht schämen. Sie gehören einfach zum Leben dazu«, sagt Ruth Zurbriggen. »Bei uns wird gelacht, zusammen gekocht und gegessen und zwischendurch ein Film geguckt«, beschreibt sie diese Art der sozialen Zusammenkünfte. Im Anschluss an den erfolgten Abbruch vermitteln die Socorristas Ärzt*innen für die Nachuntersuchung.

Wie geht das eigentlich vor sich, eine sichere, begleitete Abtreibung?

Bis Ende 2020 lief die Arbeit der Gruppen oft »unter dem Radar« ab, also in einer juristischen Grauzone. Denn bis dahin konnte in Argentinien ein straffreier Abbruch nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen: Bei einer gesundheitlichen Gefahr für das Leben der Schwangeren, wenn das Kind außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig wäre und im Falle einer Vergewaltigung. Bei allen anderen Abtreibungen drohten der Frau zwischen einem und vier Jahren Haft. Zwar war mit einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe nach einer unerlaubt vollzogenen Abtreibung nur in Ausnahmen zu rechnen, doch es gab solche Fälle. Auch nach der Legalisierung von Abtreibungen waren die Bedingungen und Zugangsmöglichkeiten in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich. In vielen Provinzen waren sie sogar unmöglich, obwohl der Anspruch darauf per Gesetz seit 1921 unter bestimmten Voraussetzungen garantiert war.

Im Jahr 2005 hatten rund siebzig Aktivist*innen die Kampagne für ein Recht auf sichere, legale und kostenlose Abtreibung ins Leben gerufen, unter dem Motto: »Sexualerziehung, um sich entscheiden zu können. Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen. Legale Abtreibung, um nicht zu sterben.« Ihr Erkennungszeichen: das grüne Halstuch. Ruth Zurbriggen berichtet darüber, wie die Kampagne, die von Beginn an unterschiedliche feministische Strömungen und Organisationen umfasste, zum Erfolgsprojekt wurde. »Wir haben immer in den Vordergrund gestellt, was uns verbindet, nicht das, was uns trennt. Wir als Socorristas waren zum Beispiel nicht damit einverstanden, wie in einigen Parolen Verhütungsmittel als die Lösung gegen Abtreibung dargestellt wurden. Denn sie sind nie vollständig sicher. Aber wir hielten uns mit der Kritik zurück.« So sei es gelungen, dass unter den sozialdemokratisch orientierten linksperonistischen Kirchner-Regierungen ein landesweites Programm für umfassende Sexualerziehung an den Schulen eingeführt wurde, und dass in allen Provinzen kostenlose Verhütungsmittel zur Verfügung gestellt wurden.

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Das »Ley de aborto«, das Gesetz für eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, wurde allerdings erst nach langen Kämpfen Ende 2020 von beiden Kammern des Staates verabschiedet. »Aber bereits 2018 standen die Zeichen auf Grün, als ein Entwurf das Abgeordnetenhauses passierte, und erst im Senat, in der zweiten Instanz, scheiterte«, berichtet die argentinische Aktivistin. Die Mobilisierungen unter dem Motto #NiUnaMenos (zu Deutsch: Nicht eine weniger) gegen sexualisierte Gewalt, die feministischen Streiks am 8. März und die breite Unterstützung für die jährlichen landesweiten Frauentreffen, die seit 1986 stattfinden, hatten es vermocht, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihren Körper zu einer zentralen gesellschaftlichen Angelegenheit zu machen. »Der eigentliche Wandel zeigte sich meiner Meinung nach darin, dass über Abtreibungen geredet wurde, nicht nur öffentlich, sondern auch im Privaten. Beim Familienessen offenbarten Großmütter, Mütter und Tanten ihre Geheimnisse. Nicht jede*r war der gleichen Meinung, aber das Thema war sprichwörtlich auf dem Tisch. Es gab kein Zurück mehr«, so Aktivistin Ruth Zurbriggen. Die Kampagne für eine Legalisierung von Abtreibungen war mittlerweile auf über 500 Organisationen im ganzen Land angewachsen.

Als die Regierung des Peronisten Alberto Fernández 2020 unter massivem Druck stand – steigende Inflation und die restriktiven Einschränkungen in der Corona-Politik hatten zu hoher Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt –, erkannten die Feministinnen die Gunst der Stunde. »Jetzt war endlich der Moment gekommen, das Gesetz durchzubringen. Der Präsident konnte endlich einmal etwas präsentieren, was gesellschaftlichen Rückhalt hatte. Und es hat funktioniert.« Seit Ende 2020 gilt in Argentinien, dass eine Frau oder schwangere Person bis einschließlich der 14. Schwangerschaftswoche einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems beantragen kann, ohne ihre Gründe für den Abbruch darlegen zu müssen. Ärzt*innen müssen proaktiv über diese Möglichkeit informieren. Es muss garantiert werden, dass der Abbruch innerhalb von maximal zehn Tagen nach Antragstellung kostenlos durchgeführt wird. Ab der 15. Schwangerschaftswoche gelten weiterhin die im Strafgesetzbuch seit 1921 festgelegten Rechtfertigungsgründe.

Die Gefahr Javier Milei

Werden die Socorristas jetzt überhaupt noch benötigt, nun, da Abtreibung in Argentinien legal ist? Ruth Zurbriggen zeigte sich bei der Veranstaltung in Berlin davon überzeugt: »Wir werden weiterhin dringend gebraucht. Zum einen vermitteln sich die Inhalte eines Gesetzes nicht von allein. Viele kennen ihre Rechte nicht. Und dann sind die politischen Vorzeichen heute auch ganz andere, als zu dem Zeitpunkt, als das Gesetz durchkam.« Denn im November 2023 gewann der rechts-libertäre Javier Milei, der sich selbst als Anarcho-Kapitalist bezeichnet, die Präsidentschaftswahlen. »Ich schäme mich und kann es immer noch nicht ganz begreifen«, sagt sie. Nach links-peronistischen Regierungen, die sich feministische Anliegen zu eigen machten oder konservativen, die diese wenigstens nicht offen bekämpften, kam am 10. Dezember 2023 Milei an die Macht. Seitdem wird alles dem »Spardiktat« untergeordnet. Das Ministerium für Frauen, Gender und Diversität wurde abgeschafft. Medikamente werden nicht mehr von der Landesregierung gestellt, sondern die Ausstattung des öffentlichen Gesundheitssystems den Provinzen überlassen. Das betrifft nicht nur, aber auch, die Medikamente, mit denen Abtreibungen durchgeführt werden. Die Provinzregierungen sind ökonomisch sehr unterschiedlich aufgestellt und politisch oft konservativ. Natürlich seien auch andere als feministische Anliegen von den Kürzungen betroffen, aber Milei sei eben nicht »nur« neoliberal, sondern auch erzkonservativ. »Seine Regierung ist Teil einer globalen Anti-Gender-Bewegung, sie steht für ein autoritäres Projekt. Ihre Feinde sind Feministinnen, trans* Personen, aber auch indigene Völker, Umweltbewegungen und soziale Bewegungen. Irgendwann wird die Regierung gegen die Legalisierung von Abtreibungen vorgehen, das ist klar, die Frage ist nur wann. Wir müssen vorbereitet sein, zusammenhalten und uns auch international vernetzen.«

Diese Worte von Ruth Zurbriggen muten fast prophetisch an. Nur wenige Tage nach der Veranstaltung in Berlin hielt Javier Milei beim Weltwirtschaftsforum in Davos eine Rede gegen soziale Bewegungen, bei der er Queer-Feminismus und LGBTIQ+-Personen mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder gleichsetzte. Wenige Tage später gingen in Argentinien rund zwei Millionen Menschen gegen diese Äußerungen auf die Straße. Das feministische Netzwerk und sein gesellschaftlicher Rückhalt sind in Argentinien weiterhin stark. Auch in Berlin und anderen Städten aller Kontinente fanden Kundgebungen in Solidarität zu den Protesten in Argentinien statt.

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