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Kein Nachweis für den Ursprung von Sars-CoV-2
Das Coronavirus kann einem Labor entwichen sein oder aus dem Tierreich stammen. Beide Thesen sind plausibel – und nicht erwiesen
Seit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 wird über die Frage diskutiert, wie das Virus in China auf den Menschen übersprang. Fachliche Evidenz trat indes schnell in den Hintergrund: Die US-Regierung von Donald Trump stellte die Volksrepublik an den Pranger und sprach vom »chinese virus«. Gleichzeitig machten Verschwörungstheorien die Runde, wonach Sars-CoV-2 künstlich gezüchtet und absichtlich freigesetzt worden sei. Letzteres war natürlich Blödsinn, doch einige Wissenschaftler schossen über das Ziel hinaus, als sie im März 2020 in einer Erklärung behaupteten, die Fachwelt komme »mit überwältigender Mehrheit zu dem Schluss, dass dieses Coronavirus seinen Ursprung in der Tierwelt hat«. Die Frage wurde zum politischen Glaubensbekenntnis. Das erklärt auch die Aufregung über Medienberichte in dieser Woche, wonach der deutsche BND 2020 Belege für die Laborthese gesammelt habe.
Bekanntlich gilt die chinesische Millionenstadt Wuhan als Ausgangspunkt von Sars-CoV-2. Den ersten größeren Ausbruch gab es dort in einem Wildtiermarkt. Gleichzeitig wurde im Wuhan Institute of Virology an Coronaviren geforscht – Details wurden nie veröffentlicht. Inhaltlich weist der BND auf drei Belege hin: Chinesische Behörden hätten versucht, die Fachwelt in die Irre zu führen. Außerdem soll in dem Institut mit Sicherheitsstufe zwei (von vier) gearbeitet worden sein, die dortigen Versuche hätten Stufe drei gebraucht. Und es gebe Indizien aus der Bioinformatik: Laut der datengestützten Analyse habe die Veränderungsgeschwindigkeit nicht abgenommen, wie es in der »Anpassungsphase« nach dem Übersprung auf den Menschen zu erwarten sei. War das Virus also auf nicht natürlichem Weg optimiert worden?
»Der Urprung von Sars-CoV-2 bleibt unbekannt.«
Lancet-Covid-19-Kommission
Alle drei Punkte werden in der Fachwelt seit Jahren breit diskutiert. Schon 2017 wurden im Fachblatt »Nature« von einigen nicht-chinesischen Experten Sicherheitsbedenken gegenüber der Anlage in Wuhan geäußert. Allerdings aufgrund der Stufe-4-Forschung in einem Teil des Instituts, die potenziell auch für militärische Zwecke taugt. Daher interessieren sich ausländische Geheimdienste wie der BND dafür. Laxe Standards sind aber kein Beweis, dass ein Virus tatsächlich entwichen ist.
Was die These vom Laborunfall vor allem plausibel macht, sind Eigenschaften des Virus: Die Rezeptor-Bindungsdomäne im Spike-Protein und die Furin-Spaltstelle waren bereits am Anfang ungewöhnlich gut an den Menschen angepasst. Sars-CoV-2 konnte daher an menschlichen Zellen andocken und in sie hineingelangen. Dies könnte für einen nicht natürlichen Ursprung sprechen, zumal bisher kein Zwischenwirt gefunden wurde: Coronaviren entstehen in Fledermäusen, die andere Tiere infizieren. Erst dann kommt es zu Mutationen, die den Übersprung auf Menschen möglich machen. Aufschluss hätten hier Proben vom Markt in Wuhan geben können, die entweder nicht genommen oder nicht veröffentlicht wurden. Daraus den Schluss zu ziehen, die Behörden wollten einen Laborunfall vertuschen, ist falsch: Eine Zoonose wäre für China genauso peinlich gewesen angesichts der katastrophalen Zustände auf dortigen Pelztierfarmen, die hier in Verdacht stehen. Und Wildtiermärkte sollten eigentlich nach der Sars-1-Pandemie 2002/3 geschlossen werden. Peking schob die Schuld auf Tiefkühlprodukte aus Europa, die auf dem Markt verkauft wurden – eine nach innen gerichtete Märchengeschichte.
Was vor allem für eine Zoonose spricht: Sars-1 war nachweislich auf Tiermärkten von Schleichkatzen auf den Menschen übergesprungen. Dass jetzt der Zwischenwirt nicht gefunden wurde, muss nicht heißen, dass es ihn nicht gibt. Einige Virologen gehen davon aus, dass Sars-CoV-2 mindestens seit November 2019 zirkulierte. Zeit für die genannten Mutationen wäre also gewesen. Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht schreibt in seinem Buch »Die Rache des Pangolin«: »Coronaviren gehören seit Langem zur natürlichen Virosphäre nicht nur Ostasiens.« Aufgrund des großen Fledermausreservoirs und von »Abermillionen von Mutationen« sei das ungewöhnliche Wuhan-Ereignis alles andere als unwahrscheinlich. Und in der Geschichte der Menschheit hätten immer wieder Zoonosen, aber noch nie Laborereignisse Pandemien ausgelöst. Ein Nachweis sind diese Hinweise aber ebenfalls nicht.
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Es bleibt dabei: Beide Thesen können relativ plausibel einen möglichen Ursprung des Virus erklären, und keine ist bislang widerlegt. Je länger die Pandemie zurückliegt, umso milder und sachlicher fällt die Kontroverse in der Fachwelt aus. Schon Ende 2022 schrieb die interdisziplinär besetzte »Covid-19-Kommission« des Fachblatts »The Lancet«: »Der unmittelbare Ursprung von Sars-CoV-2 bleibt unbekannt. Die Kommissionsmitglieder vertraten unterschiedliche Ansichten über die relative Wahrscheinlichkeit der beiden Erklärungen.« Das gilt bis heute.
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