Peggy Parnass ist tot Jeder für jeden

Zum Tod der Schauspielerin, Journalistin und Antifaschistin Peggy Parnass

Nachruf – Peggy Parnass ist tot Jeder für jeden

Peggy Parnass hat viele Geschichten erzählt im Laufe ihres Lebens. Darunter auch einige über ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland, wo sie in ärmlichen Verhältnissen in Hamburg aufwuchs. »Jeder Tag« sei damals »eine Angstpartie« gewesen, schrieb sie Jahrzehnte später, im Jahr 1979, in einer autobiografischen Erzählung. 1937, als sie zehn Jahre alt war, hätten Nachbarskinder sie in ein Treppenhaus gezerrt. Sie »schubsten mich gegen die Wand und schrien dauernd im Chor was vom Judenblut, das vom Messer spritzt«. Ihren damals erst zweijährigen kleinen Bruder Gady »schmissen die anderen Kinder auf die Straße und sprangen auf ihm rum. Zur Strafe, weil er Jude ist«.

Doch die Rolle des Opfers, für die sie vorgesehen war, missfiel Peggy früh, offensichtlich regte sich bereits in der Kindheit ein beachtlicher Widerstandsgeist in ihr: »Überall stand auf Schildern, was wir nicht durften, und wir habens trotzdem getan. Auf ne Bank gesetzt im Park, obwohl ›Für Juden verboten‹ drauf stand. Und dann dagesessen, als ob der Po festgebacken wäre.«

Peggys Mutter ignorierte die NS-Gesetze zu jener Zeit, ging mit den Kindern Eis essen oder ins Schwimmbad, obwohl das streng untersagt war und sie im Falle ihrer Entdeckung mit schwerwiegenden Folgen rechnen musste. Schließlich sorgten die Eltern im Jahr 1939 dafür, dass ihre elfjährige Tochter und ihr vierjähriger Sohn, Peggy und Gady, mit dem letzten Kindertransport nach Schweden der NS-Vernichtungsmaschinerie entkommen konnten. »Mutti hat uns zur Bahn gebracht, Hamburger Hauptbahnhof. Seitdem hasse ich den Bahnhof noch mehr als andere Bahnhöfe. Ich kann auch keine Züge sehen, ohne dass mir schlecht wird.« Als die Eltern ins Warschauer Ghetto deportiert wurden, teilten die Nachbarn den bescheidenen Besitz der Familie unter sich auf.

Bis zur militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands wurden Peggy und ihr Bruder, die zeitweise voneinander getrennt wurden und mitunter auch psychischer Misshandlung ausgesetzt waren, durch verschiedene Pflegefamilien und Waisenhäuser in Schweden und England geschleust. Ihre Eltern wurden – »als Juden, Ausländer und Linke – ein dreifaches Verbrechen«, wie Parnass einmal sarkastisch kommentierte – 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Peggy Parnass, die, staatenlos geboren, nach Ende des Krieges die schwedische Staatsbürgerschaft annahm, entschied sich in den frühen 50er Jahren für ein Leben in ihrer Geburtsstadt Hamburg und zog in das Bahnhofsviertel St. Georg, wo sie viele Jahrzehnte lebte. Zeitweise wohnte sie mit dem Schriftsteller und »Studentenkurier«-Gründer Peter Rühmkorf und »Konkret«-Gründer Klaus Rainer Röhl in einer Wohngemeinschaft. »Mit denen lebte sie in diesem Land, als wäre es ein anderes, ein Abseits von seiner Wahrheit und seiner unerträglichen Bevölkerung«, schreibt einer ihrer Vertrauten, der einstige RAF-Militante und heutige Verleger Karl-Heinz Dellwo, in einem Gastbeitrag auf »Zeit Online«.

»Die Prozesse, die ich sehen wollte, sind nicht geführt worden.«

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Parnass, die sich früh der linken Boheme der Stadt (»lauter dufte Leute«) zugehörig fühlte, war vieles: Schriftstellerin, Kolumnistin, Gerichtsreporterin für »Konkret«, Übersetzerin, Sängerin auf Kleinkunstbühnen, Schauspielerin, vor allem aber Feministin, Menschenrechtlerin, Antifaschistin, Kosmopolitin, Kriegsgegnerin, Pazifistin, Kämpferin für die queere Community Hamburgs sowie für die Schmuddelkinder der Stadt, die vom Kapitalismus Geknechteten und Aussortierten. Sie, die ganz selbstverständlich mit allen per »Du« war, hatte, wie sie selbst einmal in einem Vorwort zu einem ihrer Bücher schrieb, »Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die etwas weicher ist, offener. So dass man das dicke Fell, das ich nicht hab, nicht braucht.«

Die Erfahrungen, die Parnass in der Nachkriegszeit in Hamburg machen musste, waren ernüchternd. Eine beispielhafte Szene sei hier geschildert: Als die aus dem Exil Zurückgekehrte etwa einmal jenen Milchladen aufsuchte, den sie aus der Zeit ihrer Kindheit kannte, mit der Absicht, die Besitzerin des Geschäfts zur Rede zu stellen, die einst Peggys Mutter mit den Worten, sie »verkaufe nicht an Judenschweine«, aus ihrem Laden geworfen hatte, wartete die Milchfrau, bis alle Kunden ihren Laden verlassen hatten. »Da sagte sie: ›Oh, deine liebe Mutter, diese liebe, liebe Frau, wie oft habe ich an sie gedacht.‹ Ich konnte kein Wort sagen, mir war nur schlecht.«

Von Mitte der 60er Jahre an wirkte Peggy Parnass als Schauspielerin in Fernseh- und Filmproduktionen mit. Früher als andere, bereits vor dem gesellschaftlichen Aufbruch von 1968, als sich in der BRD zahlreiche Nationalsozialisten noch als Politiker und Staatsbeamte in Amt und Würden befanden, drängte sie auch auf eine Beschäftigung mit der Nazivergangenheit und dem Holocaust. Der Journalistin Sharon Adler teilte sie im vergangenen Jahr in einem Gespräch mit, welche Gründe sie dafür hatte, ihre Schauspielkarriere zu vernachlässigen: »Mir ging es immer um die NS-Verbrecher. Ich dachte, ich könnte die Täter zu fassen kriegen. Meine Freundin Ulrike Meinhof und ich waren dazu einer Meinung, und ich habe versucht, sie zu überreden, ins Gericht zu gehen, um darüber zu schreiben. Damals war sie bei der ›Frankfurter Rundschau‹. Aber sie meinte: ›Peggy, wenn Dir das so wichtig ist, dann geh doch selber.‹ Sie hatte ja wahnsinnig viel zu tun. Am nächsten Tag war ich im Gericht.«

In der Folgezeit musste sie als Gerichtsreporterin in den 70ern und 80ern die bittere Erfahrung machen, dass Kleinkriminelle härter bestraft wurden als ehemalige Nazis, die zahlreiche Menschen gefoltert und ermordet hatten (was angesichts der Tatsache, dass viele Nazi-Juristen noch aktiv waren, nicht verwundern sollte), und zog schließlich ein Resümee, das von Desillusionierung geprägt war: »Die Prozesse, die ich sehen wollte, sind nicht geführt worden. Bis heute sind die meisten Nazis nicht verurteilt worden und konnten jahrzehntelang unbehelligt in Deutschland leben.«

In einem Interview mit der »Taz« äußerte sie sich 2019 anlässlich der im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge: »Die Leute sagten: ›So etwas hat man noch nie erlebt.‹ Doch, hat man. Wir als Juden haben überall hingeschrieben, bitte lasst uns kommen, wir werden sonst ermordet, das wusste jedes Kind. Nein. Kein Land wollte uns haben. Die ganzen Juden, die ermordet wurden, könnten leben, wenn die Länder nicht dicht gemacht hätten. So neu ist das alles nicht.«

Für Parnass, die ein »bleibend zwiespältiges Verhältnis zu Deutschland« hatte, wie es die »FAZ« in ihrem Nachruf formuliert, war eine Nationalität etwas, »in das man zufällig hineingeboren wird«. 1986 schrieb sie in einem autobiografischen Text: »Ich fühl mich in Freunden zu Hause. Menschen sind für mich am ehesten Heimat. Bisher war das Wort Heimat für mich gar kein Begriff, gar nicht vorhanden.«

Im Januar 1990 kritisierte sie, diesem Credo folgend, die »deutsch-deutsche Besoffenheit« und den »verdammten Nationalismus, der immer wieder hochschwappt« und der ein »saftiger Sumpf für Rechtsradikale« sei. Weiter schrieb sie damals: »Was ich mir wünsche? Dass die DDR autonom bleibt. Eine europäische Einheit. Eine Welteinheit. Aber nicht eine kapitalistische. Solidarität mit den Schwachen, Solidarität mit der Umwelt. Jeder für jeden. Ich möchte, dass der Sozialismus, den es bis heute noch nirgends gegeben hat, endlich beginnt.«

Die Rechtsradikalen sitzen heute im Parlament, und die Utopie der »Welteinheit« und des Sozialismus dürfte gegenwärtig in weite Ferne gerückt sein. Was allerdings die formulierten Wünsche nicht weniger aktuell erscheinen lässt.

Ruth Peggy Sophie Parnass, die »mit jeder Menge Mitgefühl ausgestattet« (»FAZ«) war, ist am vergangenen Mittwoch in Hamburg im Alter von 97 Jahren gestorben. Karl-Heinz Dellwo teilte anlässlich ihres Todes mit: »Peggy Parnass hinterlässt ein umfangreiches, autobiografisch geprägtes literarisches Werk. Als ›kleine radikale Minderheit‹, wie sie sich selber sah, stand sie oft ungeschützt für eine radikale Emanzipation des Menschen und für gesellschaftlich geächtete Minderheiten ein, insbesondere für die Schwulenbewegung.«

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