Budapest-Komplex: »Breiter Angriff auf linke Bewegungen«

Der Antifaschist Rexhino »Gino« Abazaj über seine Verhaftung, rechte Politik und linke Kämpfe in Europa

Viele Briefe, Postkarten und Aufmerksamkeiten haben »Gino« im Gefängnis Kraft gegeben
Viele Briefe, Postkarten und Aufmerksamkeiten haben »Gino« im Gefängnis Kraft gegeben

Du wurdest in Albanien geboren, warst dann in Italien und wurdest schließlich in Finnland verhaftet. Was hast du dort gemacht?

Ich bin in Italien aufgewachsen und habe dort 20 Jahre gelebt. Für mich ist Italienisch meine Erstsprache. Dann bin ich nach Finnland gezogen, habe geheiratet und dort etwa neun Jahre verbracht: Ich habe die Sprache gelernt, studiert und gearbeitet. In beiden Ländern war ich politisch und sozial aktiv. Eines Tages wurde ich von einer regulären Einheit der Polizei in Helsinki vor meinem Haus festgenommen und übers Wochenende ins Gefängnis gebracht. Am Montag darauf entschied der Richter, mich mit einer elektronischen Fußfessel freizulassen, damit ich mein normales Leben weiterführen konnte, während ein Auslieferungsverfahren im sogenannten »Budapest-Komplex« nach Ungarn lief. Drei Monate später verlor ich den Fall vor dem Bezirksgericht und legte Berufung ein, aber die wurde vom Obersten Gericht in Helsinki nicht angenommen. Daraufhin beschloss ich, die Fußfessel zu durchtrennen und das Land zu verlassen.

Dann wurdest du in Frankreich in Auslieferungshaft genommen. Wie kam es dazu?

Ich wollte mich versteckt in Paris niederlassen, um etwas Zeit zu gewinnen und zu überlegen, was ich als Nächstes tun kann – und wie der Kampf gegen den »Budapest-Komplex« weitergeführt werden kann. Nach fünf Monaten wurde ich schließlich von der Polizei – genauer gesagt, von der Anti-Terror-Abteilung SDAT – aufgespürt und schließlich in das Gefängnis von Fresnes überstellt. Es ist unklar, welcher ausländische Partner den Behörden geholfen hat und einen Hinweis auf meinen Aufenthalt in Frankreich gab – es könnte die deutsche Polizei gewesen sein, die ungarische oder eine private Firma, die mich ausfindig machen konnte.

Wie bist du zum antifaschistischen Aktivismus gekommen?

Als Teenager sah ich die großen Probleme in Italien – Rassismus, das Erstarken rechter Gruppen, den Aufstieg von Berlusconi und seines neoliberalen Imperiums, die Lage der Arbeiterklasse. Außerdem waren die Familien der meisten meiner Mitschüler*innen privilegierter als meine eigene. Meine Familie wurde auch von der globalen Krise 2008 hart getroffen. Der Zugang zur Politik wurde mir durch meine Teilnahme an der Underground-Musikszene und der subkulturellen Umgebung erleichtert. Seit der Grundschule habe ich die Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt, insbesondere zu den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg. Die italienischen Schulen zu jener Zeit – die 1990er und frühen 2000er – ermöglichten auch eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, auch mit Überlebenden aus Italien. Für mich war klar, dass der Faschismus nicht in der Geschichte verschwunden ist und dass Antifaschismus ein wichtiger Wert bleibt. Außerdem war einer meiner Großväter ein kommunistischer Partisan, der an der Kampagne zur Vertreibung der Nazi-Besatzer aus Albanien teilnahm und auch durch Jugoslawien zog, um Titos Partisanen zu unterstützen. Es war für mich klar, wo ich stehen würde – ich war und bin definitiv nicht allein.

Wie waren die Haftbedingungen in Paris?

Fresnes ist eines der schlimmsten, wenn nicht das schlimmste Gefängnis in Frankreich. Wenn man keinen Zugang zu verschiedenen Aktivitäten hat – Sport oder Kultur – ist man 22 Stunden pro Tag in seiner Zelle eingesperrt. Vorausgesetzt, man geht jeden Tag an die frische Luft. Ich konnte dann meine Zeit mit Lesen und geistigem Training verbringen. Ich habe auch meinen Körper etwas trainiert, aber natürlich nicht so wie im Fitnessstudio. Ich hatte keinen Zugang zu den erwähnten Angeboten: Ich konnte weder in die Bibliothek, noch ins Fitnessstudio oder auf das größere »Fußball«-Feld, auf dem man vernünftig laufen kann. Die Spazierhöfe sind viel kleiner und in Gruppen unterteilt, je nach Zelltrakt im Gebäude.

Interview

Rexhino »Gino« Abazaj wartet in Frankreich auf eine Gerichtsentscheidung über seine Auslieferung nach Budapest, die für diesen Mittwoch erwartet wird. In der ungarischen Hauptstadt soll ihm wegen Angriffen auf Neonazis beim »Tag der Ehre« der Prozess gemacht werden.

Es gab viel Solidarität. Was hast du davon im Gefängnis erfahren?

Am Anfang war es schwer, denn ich kam nur mit wenigen persönlichen Gegenständen und Kleidern ins Gefängnis, die ich bei meiner Verhaftung trug. Ich hatte nur den Fernseher, um mir die Zeit zu vertreiben. Aber schon nach einer Woche begann ich, viele Briefe und Postkarten zu bekommen, dann auch Kleidung, Bücher und ein Sudoku-Heft. Ich spürte schnell die Wärme meiner Freunde und Genoss*innen – und auch von vielen Menschen, die ich gar nicht kenne, die es aber wichtig fanden, mir ihre Gedanken und Kraft zu schicken. Das machte einen großen Unterschied und hat mir sehr geholfen.

Wenn du nach Ungarn ausgeliefert wirst, drohen dir bis zu 22 Jahren Gefängnis. Was macht das mit dir?

Als ich in Frankreich verhaftet wurde, ging aus den ungarischen Unterlagen hervor, dass mir bis zu 16 Jahren Gefängnis drohen. Als die Richter weitere Unterlagen anforderten und Fragen an die ungarischen Behörden schickten, wurden diese meist nur ungenau beantwortet – und plötzlich stand da eine neue Zahl: bis zu 22 Jahren. Eine Art juristische Zauberei. Meine Anwälte und ich haben große Bedenken wegen der systematischen Probleme in der ungarischen Justiz. Für Ilaria Salis und Maja T. war es sehr schwer, sich vor Gericht zu wehren. Der Richter – derselbe wie bei dem aus Jena stammenden und bereits verurteilten Tobi – hat starke Vorurteile gegen uns – angestachelt durch Orbáns politische Freunde und deren Journalist*innen, die uns mit Fotos und Namen in den Medien und sozialen Netzwerken als »Kriminelle« und »Terroristen« bezeichneten. Nur oberflächlich betrachtet ist Ungarn ein Rechtsstaat, dank der formalen Zugehörigkeit zur Europäischen Union.

Was sagt dein Fall über das heutige politische Klima in Europa aus?

Es ist unmöglich, das nicht als Angriff auf linke Bewegungen zu sehen. Es gibt derzeit eine regelrechte Jagd auf Antifaschist*innen in Europa – besonders hartnäckig seitens des ungarischen Regimes und des deutschen Staates. Ich muss den deutschen Leser*innen wahrscheinlich auch nichts über die »Soko Linx« aus Sachsen erklären. Der Angriff ist aber breiter. Er begann nicht mit Budapest und auch nicht mit dem Antifa-Ost-Verfahren. Es gibt viele andere Beispiele in Europa. Der Kapitalismus ist wieder im Niedergang und die extreme Rechte ist überall im Aufwind; die sozialen Bewegungen mit ihren Forderungen nach mehr Rechten, mehr Demokratie und besseren Arbeitsbedingungen sollen daher eingedämmt oder zerschlagen werden. Antifaschist*innen sind nur eine Gruppe unter vielen, die dabei ins Visier geraten. Es ist aber auch nichts, was wir nicht schon in früheren Zeiten gesehen hätten. Leider vergessen viele die Geschichte – und ziehen keine Lehren daraus.

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