Gesünder in Wattenscheid

In dem Bochumer Stadtteil schließt ein Gesundheits­kiosk die Lücke zwischen Medizin und Sozialarbeit

Auf dem Wochenmarkt in Wattenscheid gibt es das Gemüse, im Gesundheitskiosk die Tipps für gesunde Ernährung.
Auf dem Wochenmarkt in Wattenscheid gibt es das Gemüse, im Gesundheitskiosk die Tipps für gesunde Ernährung.

Aus Bochum-Wattenscheid soll der fiktive Spion James Bond stammen und auch »Ekel« Alfred aus einer 70er-Jahre-Fernsehserie wurde hier angesiedelt. Kein Kunstprodukt, sondern völlig real ist der neue Gesundheitskiosk namens WATgesund, der in dem früheren Bergbauort im Februar eröffnet wurde.

In Wattenscheid, das 1975 ein Stadtteil Bochums wurde, leben etwa 75 000 Menschen. Im zentralen Bezirk Wattenscheid-Mitte bezieht ein Drittel der Einwohner Bürgergeld, Grundsicherung im Alter oder andere Sozialleistungen. Schon das liegt erheblich über dem deutschen Durchschnitt. Über 40 Prozent der Jugendlichen unter 15 Jahren wachsen in einem Haushalt heran, der Transferleistungen erhält. Eine kommunalpolitische Wählergruppe, die Stadtgestalter, beklagt, dass Wattenscheid-Mitte abgehängt sei und sich die soziale Lage in den letzten anderthalb Jahrzehnten erheblich verschlechtert habe. Auskunft darüber geben umfangreiche Sozialdaten, die von der Stadt Bochum regelmäßig erfasst werden. Auch hat sich der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 2010 und 2022 mehr als verdoppelt.

Menschen mit geringem Einkommen, Sprachbarrieren oder chronischen Erkrankungen sollen dabei unterstützt werden, sich im Gesundheitswesen zurechtzufinden.

Genau in diesem Umfeld wurde im Februar der Kiosk eröffnet. Der Schritt erfolgt gegen den politischen Trend: Zwar hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die gesetzlichen Grundlagen für bundesweit ursprünglich 1000 neue Gesundheitskioske schaffen wollen. Aber im Themenfeld ambulante Versorgung wurde der Passus Verhandlungsmasse und flog aus dem Gesetzentwurf – nicht zuletzt, weil viele Ärzte in den Einrichtungen eine Konkurrenz sahen: Damit würden dringend benötigte medizinische Fachangestellte abgeworben, so das Argument.

Laut der am neuen Kiosk beteiligten AOK Nord-West wären bundesweit 1000 Kioske ohnehin zu hoch angesetzt. »Realistischer und vorsichtig geschätzt erscheint uns eine Anzahl zwischen 50 und maximal 100 Gesundheitskiosken deutschlandweit«, heißt es von der Kasse auf nd-Anfrage.

Indessen gibt es bundesweit bereits etwa 60 Kioske, und weitere kommen hinzu: wie dieser jetzt in Wattenscheid. Nötig ist für Finanzierung und Trägerschaft eine Kooperation zwischen einer Krankenkasse und der Kommune. In Wattenscheid wirken die Stadt Bochum, die AOK Nord-West und die Arbeiterwohlfahrt zusammen, unterstützt vom Hamburger Unternehmen OptiMedis. Letzteres konzipierte bereits den bundesweiten Pionier in Hamburg-Billstedt, gründete im Thüringischen eine Gesellschaft, die mehrere kleine Kioske im ländlichen Raum unterhält, und arbeitet auch an der Einrichtung ähnlich niedrigschwelliger Angebote im Werra-Meißner-Kreis mit.

Der Bochumer Kiosk hat laut OptiMedis durchaus einen Vorlauf: Ende 2020 wurde eine Machbarkeitsstudie beauftragt, Anfang 2022 begannen Vertragsverhandlungen der potenziellen Partner. Im Herbst 2024 wurde die WAT gesund gGmbH gegründet.

Jeden Wochentag von 9 bis 17 Uhr gibt es jetzt in der Wattenscheider Friedrich-Ebert-Straße Beratung und Unterstützung. Veranstaltungen und Kurse kommen hinzu. Die vier Vollzeitstellen sind besetzt mit Fachkräften, die Hochschul-Abschlüsse zum Beispiel in Gesundheitsmanagement oder -förderung haben. Das Spektrum der Beratungsaufgaben ist vielfältig, reicht von den Themen Inklusion, Behinderung und Pflege bis zu allgemeinen Gesundheitsfragen. Anträge werden übersetzt, oder es gibt Hilfe, sie zu verstehen und auszufüllen.

Menschen mit geringem Einkommen, Sprachbarrieren oder chronischen Erkrankungen sollen also dabei unterstützt werden, sich in sozialen Bereichen und im Gesundheitswesen zurechtzufinden. Auf jeden Fall ist die Beratung »kostenlos, individuell und vertraulich«, wie Leiterin Ika Rother sagt.

Praktisch wurde es an einem ersten Tag der offenen Tür im März. Da konnten die Anwohner nicht nur die Angebote kennenlernen, sondern es gab auch gleich Fitness-Tests, oder das biologische Alter konnte geschätzt werden.

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Am Tag der offenen Tür wurden auch lokale Mediziner zum Empfang geladen, dazu Vertreter von drei Krankenhäusern im Umfeld. Denn von der Idee her sollen Kioske Ärzte entlasten. Das kann heißen, Diagnosen zu erklären und damit auch zu bewirken, dass Patienten ihre Medikamente nehmen oder Termine einhalten. Vielleicht wird es auch Unterstützung bei der Übersetzung geben – Kooperationen sind auf jeden Fall geplant, ebenso wie die Einbeziehung von Ehrenamtlichen.

Aus der Sicht von Rother wurde das Gesamtangebot in den ersten Wochen schon gut angenommen. Die Besucher vertrauten den Mitarbeitern, manche kommen schon öfter. »Und sie gehen zufrieden.«

WATgesund ist laut den Beteiligten auf Dauer angelegt: Zunächst gilt bis Sommer 2026 ein befristeter Versorgungsvertrag. Wie es danach weitergeht, hängt von künftigen Gesetzen in diesem Bereich ab. Vielleicht schafft es ein Lauterbach-Nachfolger, die Gesundheitskioske doch noch in die Regelversorgung aufzunehmen. Für die AOK Nord-West hingegen wäre entscheidend, »ob der Kiosk von den Versicherten tatsächlich angenommen wird, ob die Zusammenarbeit mit lokalen Gesundheitsakteuren gelingt und ob messbare positive Effekte für die Versorgung entstehen.« Und genau das soll in den zunächst vorgesehenen 22 Monaten geprüft werden.

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