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Den Dingen auf den Grund gehen
Kurt Pätzold analysiert den Antisemitismus unter dem Hakenkreuz
Man ist zunächst etwas verwundert, ja irritiert. Das hätte man von ihm nicht erwartet, dem kritischen Faschismusforscher Kurt Pätzold. Ein Hohelied auf die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik? »Seit 1990 ist die Geschichte des ›Holocaust‹ stärker in das allgemeine Bewusstsein der Deutschen getreten«, konzediert er eingangs. Dies widerspiegele sich auch im öffentlichen Raum, vor allem in Berlin, mit dem Denkmal für die ermordeten Juden, dem Jüdischen Museum, der Topographie des Terrors, der Gedenkstätte Wannsee-Konferenz ... Die 1992 in Köln gestartete Aktion Stolperstein hat das ganze Land erfasst. Beachtliche Fortschritte bescheinigt der Wissenschaftler ebenso der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Institutionen, Ministerien und Unternehmen bis hin zu Orchestern und Sportvereinen. Alles bestens? Mitnichten.
So viele Details auch in den letzten Jahren zutage gefördert worden sind, einem historisch gerechten Bild und Urteil stehe eine pauschale Betrachtungsweise entgegen, die den »Holocaust« - damit auch jeden Widerstand gegen Hitler und alle Solidarität mit den Verfolgten ignorierend - »den Deutschen« zuschreibe. Über diese Geschichtsdeutung, die ein »Vernebelungsinteresse« bedient, schrieb Pätzold übrigens auch jüngst in dieser Zeitung (vgl. »nd« v. 10./11.11.). Der Autor moniert, dass die gleichen Kräfte, die sich gegen die These von der deutschen Kollektivschuld wandten (z. B. in der Goldgagen-Debatte, der in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist), nun die Schuld am Judenmorden auf ein zu keiner Zeit homogenes deutsches Kollektiv abwälzen. Der Genozid erscheine wie ein aus einer Masseninitiative hervorgegangenes Verbrechen. Das Pendel ist auf die konträre Seite ausgeschlagen. Hieß es früher »Hitler war's«, so heute: »Alle haben mitgemacht.« Was noch eine Steigerung kennt mit der Fahndung nach dem »Hitler in uns«. Da waren die Ankläger, Richter und Zeugen des Nürnberger Tribunals und der Nachfolgeprozesse konkreter, pflicht- und verantwortungsbewusster.
Die von Pätzold bemängelte Vernebelungstaktik zeigt sich auch im öffentlichen Raum. Beispielsweise in Göttingen, wo am Ort der einstigen Synagoge ein Denkmal mit den Namen der ermordeten Bürger steht, auf dem von einem Verbrechen »in dunkler Zeit« die Rede ist. »Die Formulierung ist gut verträglich, weil selbst dunkel«, merkt Pätzold an und unterzieht sodann die Sprache der Medien, Politiker und einfachen Bürger wie auch der Zunftkollegen einer gründlichen Kritik. Das Gerede von »Nationalsozialismus« übernimmt - keineswegs blind - die Demagogie der deutschen Faschistenführer. Die Metaphern »Holocaust« oder »Shoah« verhüllen und verniedlichen die Dimension und Grausamkeit millionenfachen Mordens. Und was eigentlich meint das gern verwandte Wort »Zivilisationsbruch«? Selbst die Betonung der »Singularität« ist nicht erkenntnisbringend, denn das Verbrechen wird derart aus der Geschichte herausoperiert, von seinem gesellschaftlichen Kontext und historischen Wurzeln abgekoppelt. Es erledigt sich die Frage danach, wie es möglich wurde und wer davon am meisten profitierte. Pätzold erinnert an einen frühen Entwurf für das »Holocaust«-Mahnmal in Berlin. Jochen Gert wollte das Wörtchen »Warum« 39-fach in den Sprachen der Opfer auf eine Eisenplatte stanzen. Dies wäre ein Denk-Mal gewesen, das Trauer mit Nachdenken verbindet.
Eine Kapitulation nennt Pätzold das Beklagen des Genozids an den Juden wie Sinti und Roma als »vollendete Sinnlosigkeit«. Mag im Gegensatz zur antijüdischen Gesetzgebung und »Arisierung« das Töten in Gaskammern als »jenseits aller ökonomischen Zweckhaftigkeit« (Hannah Arendt) erscheinen, so ist die Wahrheit eine andere. Zum einen wurden selbst die sterblichen Überreste, Goldzähne, Haare, Knochen der Ermordeten noch von der jede Profitmöglichkeit ergreifenden deutschen Wirtschaft verwertet. Zum anderen fügt sich der Genozid in die imperiale Strategie der 1933 bis 1945 in Deutschland Herrschenden ein. Pätzold zitiert den jüdischen Historiker Joseph Wulf, der »die enge Verflechtung von politischen, rasseideologischen und wirtschaftlichen Zielen« betonte, und ein weiteres Mal Hannah Arendt: »Der Antisemitismus hat nur den Boden dafür bereitet, die Ausrottung ganzer Völker mit dem jüdischen Volk zu beginnen.« Der Traum vom germanischen Weltreich vereinte die ungenierte Ausplünderung der eroberten Länder mit der kolonialen Ideologie von Herren- und Untermenschen - und mit der Auslöschung von Menschengruppen, die dem imperialen Projekt entgegenwirken könnten.
Pätzold urteilt: Nur wenn man dem Geschehen auf dem Grund geht, es enttarnt und nicht verhüllt, das Verbrechen und die Verbrecher klar benennt, sind auch die in der Gegenwart lauernden Gefahren erkennbar. Und die wichtigste Wiedergutmachung ist, zu sichern, dass es nicht wieder geschieht.
Kurt Pätzold: Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz. PapyRossa, Köln. 246 S., br., 15,90 €.
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