Mit den Blättern fiel die Zensur

Als Klio aus den Fängen der Ideologen befreit wurde

Bist du wahnsinnig? Das kann doch nicht dein Ernst sein, einen Artikel über die Menschenrechtserklärung drucken zu wollen, wo uns die Menschen davonlaufen! Wo bleibt dein politischer Instinkt?« Der Anraunzer war gewaltig, die Anordnung apodiktisch. Der bei einem Leipziger Geschichtsprofessor bestellte Artikel über die »Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen« französischer Revolutionäre, deren Verkündung im August 1989 exakt zweihundert Jahre zurücklag, flog tout de suite von der Seite.

Wenige Tage später erschien im »ND« ganzseitig eine Erinnerung an den Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen - ohne Autorenkennzeichnung. Der Verfasser hatte auf drei, vier Sätzen beharrt, die gestrichen werden sollten. Auf Anweisung der Chefredaktion, die sich offenbar einer Order aus dem ZK beugte. (Wichtige Geschichtsartikel wurden im »Hohen Haus« gegengelesen und dann, mit mehr oder weniger »Korrekturen« versehen, abgesegnet - oder auch nicht.) Der Militärhistoriker mit internationalem Renommee hat in der Passage über den zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges gehörenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag die Irritationen angemerkt, die jener seinerzeit nicht nur unter Kommunisten auslöste. Dem Redakteur, zwischen Baum und Borke, oblag es, die Hiobsbotschaft zu übermitteln. Die Antwort des Akademikers war konsequent: »Die Sätze bleiben drin oder ich ziehe meinen Namen zurück. Sag deinen Chefs, sie können ja den ihren über den Beitrag setzen.« Das tat natürlich keiner. - Geschichte ist ein Minenfeld. Betreten auf eigene Gefahr. Potentaten und Politiker buhlen um die Muse Klio in zumeist unredlicher Absicht; ihre Sekundanten sind die Ideologen.

Doch mit den Blättern fielen im Herbst '89 auch Zensur und Selbstzensur. Redakteure und Autoren atmeten auf, erlöst von (er)drückender Seelenpein. Die Zeitung, die in den Monaten zuvor mitunter um geistreiche Artikel betteln musste, konnte sich nun vor Angeboten kaum retten. Es musste gesagt und geschrieben werden, was schon längst hätte gesagt und geschrieben werden müssen. Zuweilen schien es, als hätten sich die Autoren rechtzeitig für den historischen Moment gewappnet, um dann druckfertige Manuskripte aus ihren Schubladen zu zaubern. Die ungeheure Dimension der Verbrechen des Stalinismus und dessen Auswüchse in der DDR wurden offen debattiert, die Arbeit der Rehabilitierungskommissionen fand redaktionelle Unterstützung. Gewiss, es war keine Stunde Null. Manch Tabu, vor allem deutsch-sowjetische Geschichte betreffend, war in den Jahren zuvor im Blatt zaghaft angesprochen worden - wenn es zwischen Moskau und Ostberlin kriselte.

Indes, auch schonungslose Offenheit wird nicht goutiert. Nach dem Artikel »Wer gab Stalin die Knute in die Hand?«, der fatale Weichenstellungen in Sowjetrussland unter Lenin erörterte, flatterte ein Brief ins Haus: Der Herr Professor und seine Redakteurin sollten sich in Acht nehmen, die Machtfrage sei noch nicht entschieden. Gezeichnet: »Iwan Iwanow, Angehöriger der GSSD.« Es darf bezweifelt werden, dass ein Armist, ein einfacher Soldat der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, diese unverhüllte Drohung schrieb. Das Rad der Geschichte jedenfalls war nicht mehr zurückzudrehen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -