Anklage wegen NS-Massakers wieder möglich
Oberlandesgericht Karlsruhe sieht ausreichenden Tatverdacht gegen SS-Mann im Fall Sant‘Anna di Stazzema
Fast auf den Tag genau 70 Jahre sind vergangen, seit SS-Soldaten eines der grausamsten Verbrechen während der Besatzung Italiens im Zweiten Weltkrieg verübten. Am 12. August 1944 ermordeten sie mehr als 560 Menschen – vor allem Kinder, Frauen und Alte – und steckten die Häuser des Dorfes Sant’Anna di Stazzema in Brand. In Deutschland ist dafür bisher niemand belangt worden. Dies könnte sich nun doch noch ändern. Denn das Oberlandesgericht Karlsruhe hat am Dienstag entschieden, dass gegen einen früheren Kompanieführer Anklage erhoben werden kann. Es sei es hinreichend wahrscheinlich, dass es zu einer Verurteilung wegen Mordes oder zumindest wegen Beilhilfe zum Mord kommt, heißt es in einer Gerichtsmitteilung von Dienstag.
Damit hat sich Karlsruhe im letzten verbliebenen Fall gegen die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart gestellt, die die Ermittlungen 2012 und 2013 einstellten. Der 3. Strafsenat ordnete zudem an, das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg zu übergeben. Dort lebt der Beschuldigte Gerhard Sommer, der bereits 2005 in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Das Militärgericht in La Spezia sah es als erwiesen an, dass er und neun weitere Angehörige der 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« sich des vielfachen Mordes schuldig gemacht hatten. Ausgeliefert wurden sie jedoch nie.
»Das ist ein Riesenerfolg«, sagte die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke zum geglückten Klageerzwingungsverfahren. Sie vertritt Enrico Pieri, der sich bei dem Massaker selbst retten konnte, aber seine gesamte Familie verlor. Auch Pieri selbst zeigte sich erfreut. »Ich hoffe, dass das Verfahren weitergeführt wird und nach 70 Jahren die Gerechtigkeit siegen wird«, zitierte ihn die Stuttgarter Bürgerinitiative »Die AnStifter«. Neun ihrer Mitglieder sind gerade vor Ort, um bei den Vorbereitungen für das Gedenken zu helfen. Dort traute man der Nachricht am Mittwoch noch nicht so recht. »Es ist ein kleiner, aber wichtiger Baustein in der Aufarbeitung«, sagt Fritz Mielert, der Geschäftsführer des Vereins. Die Tragweite der Entscheidung sei umstritten. Für Mielert ist sie aber in jedem Fall neue Motivation für die Arbeit des Vereins in Stuttgart. Am 12. August wird es auch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt eine Mahnwache zum Massaker von Sant’Anna di Stazzema geben.
Gabriele Heinecke hofft derweil auf eine Anklageerhebung gegen Sommer noch in diesem Jahr. Der 93-Jährige sei verhandlungsfähig und die Beweislage so dicht, dass keine andere Entscheidung zu erwarten sei, sagte die Anwältin gegenüber »nd«.
Die Staatsanwaltschaft der Hansestadt konnte auf nd-Anfrage am Mittwoch noch keine Angaben zu den zeitlichen Abläufen machen. Man warte zunächst auf die Akten aus Stuttgart. Das Verfahren soll aber möglichst zügig vorangetrieben werden, nicht nur wegen des hohen Alters des Beschuldigten, sondern auch aufgrund des sensiblen Themas.
Derlei Gespür wurde von Kritikern der Staatsanwaltschaft Stuttgart vermisst. Bei den Hinterbliebenen und ihren Unterstützern keimt nun wieder Hoffnung auf zumindest eine Verurteilung durch die deutsche Justiz im Fall Sant’Anna di Stazzema auf. Auch weil das Karlsruher Gericht den Hauptgrund für das Ende der Ermittlungen entkräftete. In dem Senat bestehen »keine vernünftigen Zweifel, dass die Befehle und die Einsatzplanung (...) nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant’Anna di Stazzema gerichtet waren«.
In Italien ist die Entscheidung kurz vor dem 70. Jahrestag des Massakers in der Toskana positiv aufgenommen worden. Sie sei ein wichtiges Zeichen dafür, dass die Naziverbrechen nie verjähren, so die italienische Parlamentarierin Laura Garavini gegenüber »nd«. »Es war irritierend, dass deutsche Gerichte Kriegsverbrecher freisprechen, die in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt wurden.« Die Sozialdemokratin sieht auch die Arbeit der Organisationen der Überlebenden des Massakers bestätigt. Sie hätten immer für Gerechtigkeit gekämpft, so Garavini.
An den Gedenkfeierlichkeiten am Dienstag werden auch Deutsche teilnehmen – nicht reuige Täter, sondern engagierte Bürger, die ihre Solidarität mit den Opfern zeigen wollen.
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