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»Habt ihr die Nachrichten gehört?«
Warum die Russische Revolution studieren? David North und Genossen wissen es.
Zehn Gründe zählt David North auf, warum es sich noch heute lohnt, die Russische Revolution zu studieren. Der Autor zahlreicher Bücher zur marxistischen Theorie und imperialistischen Geopolitik, Mitglied der IV. Internationale, nennt als ersten Grund: »Die Russische Revolution war das wichtigste, folgenreichste und progressivste politische Ereignis des 20. Jahrhunderts.« Im Folgenden adelt er diese als praktische Bestätigung der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels und als »Beweis, dass der sozialistische Internationalismus die wesentliche Grundlage für die revolutionäre Strategie und den praktischen Kampf um die Macht« ist. Er zitiert Trotzki von 1924: »Zum Studium der Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution gibt es bis heute keine wichtigere und tiefere Quelle als unser Oktober-Experiment.«
• David North (Hg.): Warum die Russische Revolution studieren. Bd. 1: 1917. Die Februarrevolution und die Strategie der Bolschewiki.
Mehring Verlag, 292 S., br., 9,90 €.
Eröffnet wird der Band mit 20 Thesen von North und Joseph Kishore, Sekretär der Socialist Party und Redakteur der »World Socialist Web Site«. Zuvörderst betonen sie, dass die 17er Revolution inmitten der Schlächterei des Ersten Weltkrieges zeigte, dass »eine Welt jenseits des Kapitalismus, ohne Ausbeutung und Krieg, möglich ist«. Ihr Schicksal hing von äußerer Unterstützung ab. In Trotzkis Worten: »Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar.«
Bekanntlich blieben die Bolschewiki jedoch Jahrzehnte auf sich allein gestellt, was nicht zwangsläufig in die stalinistische Barbarei münden musste. Ebenso wenig sind, so North/Kishore, mit dem Ende der UdSSR die Russische Revolution und die marxistische Theorie widerlegt. Ungerechtfertigt empfindet es die Rezensentin, dass die beiden Autoren dem Grandseigneur des modernen westlichen Marxismus, Eric Hobsbawm, einen Kotau vor Francis Fukuyamas »Ende der Geschichte« unterstellen. Zuzustimmen ist dem Duo hingegen in der Ansicht, dass der seit über einem Vierteljahrhundert global herrschende Kapitalismus die Welt nunmehr ungezügelt ausplündert; einige wenige Menschen bereichern sich obszön auf Kosten von Milliarden, die soziale Ungleichheit nimmt rasant zu, immer mehr Gelder wird in staatliche Rüstung gesteckt und fehlt für die Bekämpfung von Hunger und Armut, demokratische Errungenschaften werden sukzessive und ungeniert weiter abgebaut. Es lässt sich nicht leugnen: Die gegenwärtige Welt steckt in einer grandiosen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftliche Krise. »Alle ungelösten Widersprüche des letzten Jahrhunderts brechen mit explosiver Gewalt wieder an die Oberfläche der Weltpolitik«, konstatieren North/Kishore.
Sie setzen sich auch mit dem stärker werdenden Rechtspopulismus auseinander, in den USA unter anderem in präsidialer Gestalt, verweisen auf besorgniserregende Phänomene in Europa, wie dem Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und die Independence Party in Großbritannien. Beklagt wird die Kapitulation vieler linker Kräfte, darunter von Syriza in Griechenland. »Doch der Druck der Ereignisse treibt die Arbeiterklasse nach links«, sind sich die Autoren sicher. »Unter den Milliarden Arbeitern und Jugendlichen auf der ganzen Welt breiten sich Wut und Kampfentschossenheit aus.« Es fällt schwer, diesen Optimismus zu teilen. North/Kishore geben selbst zu bedenken: »Vertrauen in das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse ist jedoch kein Grund für politische Selbstgefälligkeit.«
Dieser Band ist ein Unikat auf dem deutschen Buchmarkt, da hier die Russische Revolution nicht als ein abgeschlossenes Kapitel Geschichte betrachtet wird. Diskutiert werden aktuelle Schlussfolgerungen und Lehren. Die Beschreibung der historischen Ereignisse und Prozesse - angefangen von der Revolution 1905 in Russland (Fred Williams) über die Rückkehr Lenins aus dem Exil und dessen Aprilthesen (James Cogan) bis hin zur Skizzierung der revolutionären Monate Februar und Oktober 1917 (North) - verbindet sich mit Reflexionen zur Gegenwart.
Man wird auch mit einigen unbekannten Anekdoten überrascht. So berichtet Cogan, wie eines Morgens Anfang März in Zürich, als Lenin und dessen Frau Nadeshda Krupskaja gerade das Frühstück beendet hatten, der polnische Marxist Mieczysław Broński in ihre Wohnung stürmte und ausrief: »Habt ihr die Nachrichten gehört? In Russland gibt es eine Revolution!« Nick Beams, Mitbegründer der australischen Sektion des Internationalen Komitees der IV. Internationale, befasst sich mit der Interaktion von Krieg und Revolution. Kishore philosophiert über Spontaneität und Bewusstsein. North zerpflückt die Legende vom »Deutschen Gold«, konkret polemisierend gegen einen in der »New York Times« am 19. Juni 2017 veröffentlichten Artikel von Sean McMeekin, der Lenin einen Agenten Deutschlands schimpfte.
Sodann findet sich im Band erfreulicherweise auch eine von North gemeinsam mit dem russischen Trotzkisten Wladimir Wolkow verfasste Hommage auf Georgi Plechanow, den »Vater des russischen Marxismus«, auch wenn dieser »in seinen letzten Lebensjahren vor dem nationalen Chauvinismus kapitulierte«; dies betraf freilich die Sozialdemokraten aller 1914 in den Krieg ziehenden Staaten. Zu Plechanows Ehrenrettung zitieren North/Wolkow Shakespeare: »Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, das Gute wird mit ihnen oft begraben.«
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