Die Suche nach dem Unausgesprochenen

Was aus uns geworden ist - der Musiker und Schriftsteller André Herzberg ist im Roman und auf einem Liederalbum unterwegs zu sich selbst.

Jakob ist nicht mehr der Jüngste. Den größeren Teil seines Lebens hat er hinter sich. Er blickt zurück, sucht nach einem Sinn, einer Bilanz. Spät hat er zu sich selbst gefunden, zu einer Art von innerem Frieden.

Jakob, das ist das Alter ego von André Herzberg. Rockmusiker und Schriftsteller. Rocker schon seit Jahrzehnten, als Autor ein Spätberufener. Ende der 70er und in den 80er Jahren gehörte er, vor allem mit der Band Pankow, zu den DDR-Künstlern, die sich mit ruppig-trotzigem Gestus von den etablierten Bands absetzten - vom Publikum geliebt, von der Kulturaufsicht beargwöhnt. Legendär das Musiktheater-Spektakel »Paule Panke« über den tristen Alltag eines Lehrlings, über seine Träume und Ernüchterungen. Ein Antiheld, der nicht ins Bilderbuch der pflichtbewussten, politisch begeisterten DDR-Jugend passte.

Dass Herzberg aus einer jüdischen Familie stammt, wusste damals kaum jemand. Für ihn selbst wurden die Wurzeln der Identität erst nach dem Ende der DDR, nach der Wende und der deutschen Vereinigung zum großen Thema. Dann aber mit existenzieller Wucht. Da kam viel zusammen, und es war wenig Gutes im Spiel: die Selbstbefragung, der Zerfall des Staates DDR, eine erfolgreiche Musikerkarriere, die plötzlich ihren Halt verlor.

Herzberg ist daran fast zerbrochen. Lange Zeit unterzog er sich Therapien. Am Ende rettete ihn das Schreiben, die beste Therapie. Jedenfalls für ihn. Schon in mehreren Romanen setzte er sich seiner eigenen Geschichte aus. Sie lässt ihn nicht los - der erste Roman »Mosaik« erzählt davon, der Nachfolger »Aller Nähe fern«, zwischendurch das Hörspiel »Gespräch mit meiner Mutter«, ein Versuch der Annäherung nach ihrem Tod.

Nun also das jüngste Werk »Was aus uns geworden ist«. Wieder ein Titel, der die Sinnsuche schon in sich trägt. Eine Spurensuche quer durch die Jahrzehnte. Von sechs Menschen erzählt Herzberg - Richard, Eike, Anton, Michaela, Peter und Jakob. Kinder jüdischer Eltern, aufgewachsen in der DDR. Die Eltern haben sich bewusst für diesen Staat entschieden, sie waren im antifaschistischen Widerstand aktiv, mussten emigrieren, waren nach dem Krieg fest entschlossen, eine bessere Welt aufzubauen.

Die jüdische Herkunft, die Religion, die Bräuche und Traditionen - für die Großelterngeneration noch prägend - spielten kaum eine Rolle. In der Nazizeit waren sie lebensgefährlich, sie passten auch nicht zur kommunistischen Weltanschauung, erst recht nicht, solange Juden dem großen Generalissimus in Moskau suspekt waren und als Sündenböcke im Klassenkampf dienten. Und nach Stalins Tod hatte die DDR-Führung ein verdruckstes, eher ein Nichtverhältnis zu Juden und den jüdischen Gemeinden.

Dem spürt Herzberg nach, in kurzen, hingetupften Episoden. Sein atemloses, lakonisches Erzählen zeichnet die Figuren allmählich, es erlaubt ihm Sprünge zwischen den Protagonisten und über größere Zeitabstände, ohne den Faden zu verlieren. Je länger man liest, desto stärker fallen Parallelen zu realen Personen auf.

Da ist der langjährige Funktionär der jüdischen Gemeinden in der DDR, der sich redlich um die kleinen Rechte und Freiheiten der Glaubensgemeinschaft müht und sich mit der politischen Macht arrangieren muss. Da ist der Kommunist, der auf Geheiß der Parteiführung einen großen Buchverlag übernehmen soll und dabei das Schicksal seines Vorgängers vor Augen hat, der wegen abweichender Meinungen in einem Schauprozess vor Gericht steht. Später wird der Verlagsleiter Kulturminister, sein Sohn studiert Jura und wird ein erfolgreicher Anwalt, der noch später, nach einer Zeitenwende, in die Politik wechselt.

Da ist der Rockmusiker, der in jungen Jahren gegen den Einmarsch des Warschauer Vertrags in die ČSSR protestierte, weshalb sein Vater, ein Journalist, degradiert und ins Archiv strafversetzt wurde. Und da ist Jakob, der kein Verhältnis zu seinen Eltern findet, der an ihnen eine abweisende, unverständliche Strenge und Verbitterung erlebt und schließlich selbst ein erfolgreicher Rockmusiker wird. Ein Star.

Ob und wie sich die Vorbilder in Herzbergs Prosa wiedererkennen - das müssen sie mit sich selbst ausmachen. Im Roman sind sie allesamt Getriebene; auch diejenigen, die glauben, die Dinge in der Hand zu haben. Sie tragen die Brüche und Umbrüche der Zeiten in sich. Auch der Zeiten vor ihrer Zeit.

Viel, all zu viel Unausgesprochenes schwebt und schwelt in diesen Familien. Nicht zuletzt darüber, was vielen Angehörigen im Holocaust widerfahren ist. Unausgesprochen von Menschen, die dem Terror des NS-Regimes glücklich entkommen sind und dennoch nicht glücklich wurden. Die in den Überlebenskämpfen verhärtet wurden, zuweilen hart auch gegen ihre eigenen Kinder. Die wiederum ihre Eltern nicht verstanden, aber spürten, dass etwas zwischen ihnen stand.

Herzberg hat das selbst erlebt. Seine Eltern waren im britischen Exil, dann SED-Mitglieder, viel beschäftigt im Beruf und in der Partei. Juden, die ihr Judentum teils ignorierten, teils versteckten. Als ihre Kinder heranwuchsen, überlagerten sich die Konflikte, die alle Pubertierenden mit ihren Eltern haben - das Aufbegehren des erwachenden Selbstbewusstseins, die Rebellion gegen Vorschriften und Konventionen - mit dem Erbe des grausamen, zerrissenen 20. Jahrhunderts. Ein Nichtverstehen durchzieht die Erzählung, bis hin zur Sprachlosigkeit.

Für Herzberg ist das Schreiben darüber heilsam, ebenso wie das Bekennen zur jüdischen Herkunft, zur Religion, das Bewusstsein, dass er seinen Frieden mit seinem Gott machen kann. So schließt sich eine Lücke in seiner Identität; das Buch endet nach all den Verwerfungen und Erschütterungen in beinahe pathetischer Weise mit der Beschreibung eines Familienlebens, das der Vorstellung von Glück ziemlich nahe kommt. Insofern hat der Romantitel »Was aus uns geworden ist« durchaus keinen fatalistischen Grundton.

Das gilt auch für die neue Platte, die der Musiker Herzberg herausgebracht hat. Parallel zum Buch hat er Songs geschrieben und eingespielt; Buch und CD erschienen gleichzeitig unter dem Titel »Was aus uns geworden ist«. Er habe während des Nachdenkens, Schreibens und Komponierens bemerkt, dass die Platte nicht ohne das Buch und das Buch nicht ohne die Platte zu verstehen sei, sagte er. Man könnte das für einen Marketingtrick halten, wäre nicht auch auf der CD die Lebensbilanz eines nicht mehr ganz jungen Menschen das Thema.

In jedem Falle sind Buch und CD gemeinsam ein seltenes Zeugnis künstlerischer Selbstverständigung. Der Roman ist das Booklet zur Platte; die CD bringt den Soundtrack zum Buch. Zu hören ist die kleine Besetzung, auch ein paar solistische Stücke, dezenter Blues, hier und da eine Mundharmonika, nur Herzbergs Stimme und Gitarre, sind dabei. Der Sänger im Selbstgespräch in seinem nöligen Berliner Slang. Viel Nachdenklichkeit, Melancholie, Gelassenheit, milder Humor. Nur manchmal blitzt noch die Ruppigkeit aus frühen Pankow-Zeiten durch. Kein Schwarz-Weiß in den Texten, dafür hat er zu viel erlebt. Statt dessen viele Grauzonen, und dort die Suche nach dem eigenen Platz. Ein Mann Anfang 60, der immer noch etwas zu sagen hat, aber längst andere Fragen stellt als ein 25-jähriger Rocker. »Er will anders sein«, schmetterte Herzberg mit Pankow vor Jahrzehnten. »Ich bin heut ein anderer oder würd’s so gerne sein«, singt Herzberg jetzt im Titelsong. Ein Schlüsselsatz.

Jede Generation hat eine Last zu tragen. Sie bekommt sie von den Eltern aufgeladen. Es ist die Geschichte, die ausgesprochene und die verschwiegene. Verschwiegen aus Angst, aus Scham, aus Loyalität, aus dem Unvermögen, Unsagbares zu sagen. Herzberg, ein Nachkriegsgeborener, versucht darüber zu sprechen und zu singen. Ein zehrender, schmerzender - gleichwohl ein notwendiger, für ihn offenbar befreiender Versuch.

André Herzberg: Was aus uns geworden ist. Liederalbum. Reptiphon / Broken Silence. André Herzberg: Was aus uns geworden ist. Roman, Ullstein, 238 Seiten, 22 Euro.

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