Kein Gott, kein Staat, kein Verlag
Linker Journalismus in der Schweiz: »Das Lamm« füllt eine Lücke in der Medienlandschaft
An einem normalen Freitag säße die Redaktion von »Das Lamm« in einer Zwischennutzung an der Zürcher Sihlstraße um einen großen Tisch in einem schmucklosen Raum. Man würde Tastaturgeklapper hören, auf dem Tisch läge Schokolade, am Fenster würde jemand rauchen, und nach dem Arbeitstag würden die Redakteur*innen sich mit einem Dosenbier in die Sonne setzen. Doch wegen der Corona-Pandemie finden die Redaktionssitzungen jetzt nur noch per Videochat statt.
»Das Lamm«, ein selbstverwaltetes Online-Magazin aus Zürich, wurde von der Coronakrise nicht erwischt: Die Redaktion publiziert weiter Artikel - über Frauen und Care-Arbeit, überteuerte Schutzmasken und die griechischen Lager voller Geflüchteter. Das Magazin ist stabiler als viele große Medienhäuser in der Schweiz: Vom Medienkonzern Tamedia bis zur »NZZ« mussten Zeitungen im ganzen Land Stellen kürzen und Kurzarbeit beantragen. Nicht so »Das Lamm«, das in den vergangenen Monaten so hohe Einnahmen hatte wie noch nie. Wie kann das sein?
Angefangen hat alles 2009 mit der Zürcher Kompostsammlung. Oder besser: deren Fehlen. Die Studentin Alexandra Tiefenbacher wollte wissen, warum es in der Stadt keine organisierte Abfuhr für Biomüll gibt, und beschloss, die zu fragen, die es wissen sollten: die Stadtverwaltung. Ihr damaliger Mitbewohner interessierte sich für Journalismus und fand, aus der Antwort könne man einen Artikel machen. Die beiden gründeten kurzerhand einen Onlineblog und tauften ihn »Lamm« - die »Liga der außergewöhnlichen Montagsmailer«.
Jeden Montag schrieb Tiefenbacher eine E-Mail. An den PC- und Druckerhersteller Hewlett Packard zum Beispiel, um herauszufinden, warum neue Elektrogeräte so viel Verpackungsmaterial brauchen. Und jede Woche bastelten sie und ihr Mitbewohner einen Artikel aus der Antwort der Unternehmen.
»Ich wollte nie Journalistin werden«, sagt Tiefenbacher heute. »Das Schreiben macht mir keinen Spaß. Ich mache das, weil ich an Dinge heranlaufe, über die man nachdenken und schreiben muss.«
Die Medienlandschaft in der Schweiz wird von wenigen großen Verlagen dominiert. Neben der international gelesenen, politisch stramm rechts stehenden »NZZ« lesen viele Schweizer*innen das Boulevardblatt »Blick« und den Zürcher »Tages-Anzeiger«. Am linken Rand finden sich die »WOZ« und die »Republik«, die in den letzten Jahren am meisten Wirbel erzeugte, weil sie keine Anzeigen schaltet. Kleine unabhängige Medien haben es schwer, sich gegen die großen durchzusetzen.
Mit der Zeit wuchs »Das Lamm« aber. Tiefenbacher, die damals Umweltwissenschaften studierte, holte Mitstudent*innen ins Boot, die Themen recherchierten und Artikel schrieben. Ziel war es, eine unabhängige Plattform zu bieten, um kritisch über Klimawandel und »Nachhaltigkeit« zu berichten - ein Thema, das nach Ansicht der Autor*innen in den etablierten Medien vernachlässigt wurde. Alle Artikel wurden auf ehrenamtlicher Basis geschrieben.
Das änderte sich 2018: Die Redaktion beschloss, vier Redakteur*innen zu einem festen Lohn einzustellen und ebenfalls Beiträge von Freien zu entlohnen. Seither hat sich das Magazin auch inhaltlich verändert. »Heute, da auch die großen Medien über den Klimawandel berichten, ist unsere Aufgabe eine andere«, sagt Redakteur Simon Muster, der seit 2018 auf 20-Prozent-Basis für die Publikation arbeitet. Statt Tipps für ein nachhaltiges Leben zu geben und Kritik an Umweltverbrechen von Unternehmen zu üben, schrieb »Das Lamm« in den letzten Jahren über eine ausbeuterische Imbisskette am Zürcher Hauptbahnhof, ein unterfinanziertes Mädchenhaus oder die Schweizer Sozialpolitik.
Die neue Redaktion interessierte sich weniger für »nachhaltigen Konsum« als für außerparlamentarische linke Politik, für Machtkritik und Protest. »Wir wollen auch nie wieder vom ›schlechten Gewissen‹ schreiben, das ein unökologischer Konsum hervorruft«, sagt die Co-Chefredakteurin Natalia Widla, die ebenfalls 2018 zum Team gestoßen ist. Wichtiger als individueller Konsum sei ihr Systemkritik. »Nachhaltigkeit ist immer noch unser Thema, aber eben in einem breiteren Sinne. Wir meinen damit auch soziale Nachhaltigkeit«, sagt Mitgründerin Tiefenbacher.
Die neue Ausrichtung kommt gut an: »Das Lamm« wird seit dem Umbau so viel gelesen wie noch nie - 43 000 Leser*innen erreichten die Artikel im März. Mittlerweile wird das Magazin auch von großen Medienhäusern wahrgenommen. So druckte die »WOZ« einen »Lamm«-Artikel und der Zürcher »Tages-Anzeiger« nahm eine Recherche über den chauvinistischen Besitzer des Schokoladenimperiums Läderach auf. Trotzdem bleibt »Das Lamm« eine Außenseiterin. »Wir fallen aus der Berufslogik heraus und kennen kaum andere Journalist*innen. Deswegen haben wir auch einen kritischen Blick auf sie. Unsere besten Artikel sind medienkritisch«, sagt Redakteur Muster. Beispiele sind Texte über den neoliberalen Gestus der »NZZ« oder den Antifeminismus der rechtsnationalen »Weltwoche«.
Das Magazin macht dezidiert linken und aktivistischen Journalismus, hält sich dabei aber weitgehend an klassische journalistische Formate und streng an journalistische Standards. Es ist weniger auf die autonome Bewegung beschränkt als das selbstverwaltete Magazin »Ajour«, aber aktivistischer, jünger und frecher als die »WOZ«. »Journalismus kann nicht unpolitisch sein«, findet Co-Chefredakteurin Widla. Selbst eine Reportage für ein Medium des Tamedia-Konzerns sei ein politisches Statement. Beim »Lamm« schätze sie die Freiheit, über die Themen zu schreiben, die ihr wichtig sind. »Wir ordnen einzelne Themen immer in ein großes Ganzes ein. Wenn Sozialhilfe gestrichen wird und gleichzeitig Mieten erhöht werden, dann gehört das zusammen. Und diese Einbettung machen wir so konsequent wie kein anderes Medium in der Schweiz«, findet Muster.
Außerdem verzichtet das Magazin auf eine Bezahlschranke und finanziert sich ausschließlich über Spenden. Jede und jeder soll die Artikel lesen können, findet die Redaktion. Damit ist »Das Lamm« in der Schweiz (fast) einzigartig. Es gibt auch keine Anzeigen auf der Webseite. »Wir wollen den Konsum nicht weiter ankurbeln«, sagt Tiefenbacher. Das Konzept geht aber nicht ganz auf: Niemand kann vom »Lamm« leben. Die Redaktionsmitglieder arbeiten immer über ihr bezahltes Pensum hinaus. Diesen unlösbaren Widerspruch kennt jedes linke Projekt: »Eigentlich können wir nicht über das Prekariat schreiben, uns aber gleichzeitig ständig selbst ausbeuten«, findet Widla, die nebenbei Politikwissenschaften studiert und im Einzelhandel arbeitet.
Obwohl so viele Menschen wie noch nie »Das Lamm« lesen und die Spenden sich mehren, wird nach zwei Jahren fixer Löhne das angesparte Stiftungsgeld knapp. Im vergangenen Jahr warb das Team in den sogenannten sozialen Medien mit dem Slogan »Kein Gott, kein Staat, kein Verlag« um Mitglieder und Spenden. Aus der Not entschloss sich die Redaktion zu drastischen Maßnahmen: Allen Redaktionsmitgliedern wurden Stellenprozente gestrichen, und abgesehen von der Chefredaktion arbeiten sie seit Januar in einem flexiblen Lohnmodell. Der Lohn orientiert sich an den Einnahmen.
Bisher funktioniert das - noch. Zwei Redakteur*innen musste ein niedrigerer Lohn ausgezahlt werden, aber die Spendengelder mehren sich weiter. Die Frage ist, ob sie sich irgendwann so weit stabilisieren, dass die Online-Publikation nicht monatlich um ihre Existenz bangen muss. »Ein linkes Magazin zu betreiben und darin Missstände zu kritisieren, dafür aber weiter so tief in die Trickkiste des Neoliberalismus greifen zu müssen, ist keine langfristige Lösung«, wie die Redaktion in einem Text schreibt.
Langfristig, da sind sich alle einig, wollen die Redakteur*innen sich ganz auf die Arbeit für das Magazin konzentrieren - und angemessen entlohnt werden. Das Schlimmste, was dem »Lamm« passieren kann? »Dass wir nicht bis dahin durchhalten. Das Modell funktioniert nur, wenn alle mit Herzblut dabei sind - und sich die niedrigen Löhne leisten können«, sagt Tiefenbacher.
https://daslamm.ch/
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