Die Gesellschaft als ein Haufen Rinder

Mit Herdenimmunität soll die Corona-Pandemie Geschichte sein. Doch das gut 100 Jahre alte Konzept hat seine Tücken

»Hilf uns, die Herdenimmunität mit einer hohen Impfquote zu erreichen«, werben die Macher von Sofort-impfen.de. Das Portal will Patienten und Ärzte zusammenbringen, die bei Covid-19-Vakzinen oft nur schwer zueinanderfinden. Es geht also nicht nur um eine Dienstleistung für einzelne, sondern, wie der Begriff Herdenimmunität ausdrücken soll, für die Gesellschaft insgesamt. Doch was steckt hinter diesem Fachausdruck, der unter anderem besagt, dass es eine bestimmte Schwelle gibt, ab der ein Virus sich nicht mehr ausbreiten kann?

Geprägt wurde er in den 1910er Jahren in den USA, als sich Massentierhaltung allmählich verbreitete, wodurch Seuchen volkswirtschaftlich relevant wurden und öffentliche Stellen auf den Plan riefen. Als erste sprachen der Veterinärmediziner George M. Potter und der Bakteriologe Adolph Eichhorn von »Herdenimmunität«. Sie entwickelten in einem 1916 erschienenen Artikel für die Fachzeitschrift »Journal of the American Veterinary Medical Association« ein neues Konzept, das die Ausbreitung von Infektionskrankheiten unter Nutztieren stoppen sollte.

Im Bundesstaat Kansas grassierte damals unter Rindern die Brucelliose. Ein Bakterium sorgte bei Kühen für spontane Totgeburten. Landwirte töteten oder verkauften befallene Tiere in der Hoffnung, die Ausbreitung zu stoppen. Potter und Eichhorn kamen zum gegenteiligen Schluss: »Die Krankheit ist vielleicht vergleichbar mit einem Feuer, das, wenn neuer Brennstoff nicht ständig hinzugegeben wird, bald erlischt«, wie es Eichhorn formulierte. »Deshalb entwickelt sich Herdenimmunität, indem man die immunen Kühe behält, die Kälber aufzieht und die Einführung fremder Kühe vermeidet.«

Das Konzept in der Tieraufzucht war wenige Jahre alt, da erreichte es schon die Forschung bei Menschen. Kein Wunder, denn tödliche Infektionskrankheiten breiteten sich in den Wirren während und nach dem Ersten Weltkrieg aus. Der britische Bakteriologe William Topley führte Experimente an infizierten Mäusegruppen durch und zog Rückschlüsse auf Menschen. Ab 1923 machte der Militärarzt Shelton Dudley die Probe aufs Exempel: Er begann eine Studie an der Royal Hospital School, einem Internat mit Marinetradition in Greenwich. Schüler im Alter von 11 bis 15 lebten, aßen und lernten hier drei Jahre lang, schliefen in Schlafsälen mit 70 bis 126 Betten. Perfekte Laborbedingungen mit homogenen und alle paar Monate neu hinzukommenden Gruppen sowie ebenso perfekte Bedingungen für die Ausbreitung von Tröpfcheninfektionen wie der Diphtherie.

Mehrere Jahre lang wurden regelmäßig sogenannte Schick-Tests durchgeführt, mit denen damals nachgewiesen wurde, wie anfällig jemand für diese Atemwegsinfektion war. Sheldon konnte aufzeigen, dass das zuvor übliche Vorgehen, infizierte Schüler zu separieren, nicht gegen die Ausbreitung hilft. Ganz im Unterschied zu »aktiver Immunisierung«. Schüler, die schon mehrere Jahre in dem Internat verbracht hatten, waren erheblich widerstandsfähiger gegen die Krankheit als Neuankömmlinge. Und Zuwächse an Immunisierung nach einem Ausbruch korrelierten mit dem Rückgang der Erkrankungen.

Dudleys Vorgehen war damals allerdings umstritten. Nachdem er öffentlich die Schüler als »ideale Versuchsherde« bezeichnet hatte, kam es sogar zu einer Debatte im britischen Unterhaus. Dabei wurde infrage gestellt, dass Experimente mit Menschen mit ethischen Grundsätzen vereinbar seien. Ein Fachkommentator der Zeitschrift »The Lancet« schrieb zudem, es sei unklar, ob Dudley den Begriff Herde wissenschaftlich oder ironisch verwende. Seiner Karriere tat die Debatte keinen Abbruch: Im Zweiten Weltkrieg wurde Dudley Vizeadmiral und Medizinischer Direktor der Marine.

Das Konzept der Herdenimmunität setzte sich dennoch durch. Erst recht mit den Fortschritten in der Impfstoffforschung in den 1950er und 1960er Jahren. In der staatlichen Gesundheitspolitik stellte sich nun die Frage, welcher Anteil der Bevölkerung geimpft werden müsse, um etwa Kinderkrankheiten in den Griff zu kriegen. Der Begriff Herdenimmunität etablierte sich in der Wissenschaft, obwohl unverfänglichere Alternativen immer wieder im Gespräch waren. Anfang der 1970er Jahre entwickelten der britische Epidemiologe CE Gordon Smith und der Tübinger Biometriker Karl Dietz sogar eine einfache mathematische Formel zur Ermittlung von Herdenimmunität, die da lautet: 1 - 1/R0. Dabei ist R0 die sogenannte Basisreproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Das ist je nach Virus sehr unterschiedlich: Bei den besonders ansteckenden Masern geht man von einer notwendigen Impfquote von 95 Prozent aus.

Und wie ist es mit Sars-CoV-2? Das Robert-Koch-Institut hält eine Reproduktionszahl von 3,3 bis 3,8 für realistisch. Demnach müssten etwa 70 bis 74 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein, um die Epidemie zu stoppen. Doch die Zahlen stehen auf recht wackligen Beinen. So können infektiösere Virusmutanten die Reproduktionszahl verändern, so dass höhere Impfquoten nötig werden. Und schon die auf Basis der RKI-Zahlen errechnete Quote scheint unerreichbar: Umfragen zufolge wollen sich 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nicht impfen lassen. Die Anreize durch Reisemöglichkeiten von Geimpften im Sommer könnten die Bereitschaft zwar etwas erhöhen. Aber viele Menschen können sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen; und für Kinder unter zwölf Jahren ist noch kein Vakzin in Sicht. Das Problem wird dadurch verschärft, dass Vakzine keinen hundertprozentigen Schutz bieten - bei den bisher eingesetzten liegt die Wirksamkeit bei 70 bis 95 Prozent. Epidemiologen sprechen von »nicht perfekter Immunität«.

Hilfreich beim Erreichen der Herdenimmunität ist hingegen die Immunisierung durch eine Infektion. Das Ausmaß ist wegen der Dunkelziffer unklar, aber einige Prozent der Bevölkerung betrifft dies auf jeden Fall. Virologen streiten indes, ob der Schutz einige Monate oder doch dauerhaft hält.

Dass das mit der Herdenimmunität nicht so einfach ist, weiß man in der Wissenschaft natürlich schon lange. Die Formel war kaum veröffentlicht, da gab es schon Publikationen, in denen etwa darauf hingewiesen wurde, dass simple Schwellenwerte in der Gesundheitspolitik alleine wegen der Heterogenität der Bevölkerung nichts taugten. Die menschliche Gesellschaft ist eben keine Rinderherde, in der jeder mit jedem etwa gleich viel Kontakt hat und sich alle gleich verhalten. Schon Marinearzt Dudley hatte diverse Unterscheidungen angesprochen - etwa zwischen der »städtischen und der ländlichen Herde«.

Hinzu kommt die Unschärfe des Begriffs. Der Epidemiologe Paul Fine von der London School of Hygiene and Tropical Medicine zählt in einem Artikel für die Zeitschrift »Clinical Infectious Diseases« aus dem Jahr 2011 gleich sieben unterschiedliche Bedeutungen auf. Dennoch verteidigt er aufgrund der Erfolge weltweiter Impfkampagnen das Konzept der Herdenimmunität und auch des kritischen Schwellenwertes. Staatliche Impfkampagnen müssten aber sehr viel komplexere Zusammenhänge berücksichtigen: Wegen der Heterogenität von Bevölkerungen, schreibt er, »braucht es Kenntnisse oder Annahmen darüber, wie unterschiedliche Gruppen interagieren«. Fine verweist auf einen weiteren zu berücksichtigenden Faktor: das menschliche Verhalten. Gehen die Infektionszahlen dank steigender Impfquoten zurück, sinkt häufig die Impfbereitschaft.

Während Fine nur die (zu lösenden) praktischen Probleme bei der Herdenimmunität sieht, gibt es auch grundsätzliche Einwände. Zu Beginn der Pandemie gab es Gedankenspiele, ob man das Coronavirus bei weniger gefährdeten Gruppen nicht durchlaufen lassen sollte, um so Herdenimmunität zu erzeugen. »Unethisch und unerreichbar« sei das, erwiderten Kritiker, die solche Überlegungen auch darauf zurückführen, dass hier Konzepte aus der Tiermedizin auf Menschen übertragen werden. Die Biologin Flora Malein regt mit Blick auf die Impfkampagnen an, sich zumindest von dem Begriff zu trennen: »Man muss befürchten, dass die Verwendung einer alten Phraseologie, die ihre Wurzeln in Farmen, Mauslaboren und menschlichen Versuchskaninchen hat, sich eher als Hindernis denn als Hilfe erweisen könnte.«

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