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Feministische Landnahmen

Die literarischen Zukunftsentwürfe der Autorin Marge Piercy stehen in engem Wechselverhältnis zur marxistisch-feministischen Theoriebildung - und sind aktueller denn je

  • Stefanie Retzlaff
  • Lesedauer: 7 Min.
Science-Fiction- und Fantasy-Romane haben im hiesigen Kulturbetrieb gemeinhin einen schweren Stand. Nach bürgerlichen Kunstvorstellungen notorisch abgewertet, gelten sie als triviale Unterhaltungsgenres, als seichte Kost zur kurzweiligen Zerstreuung oder schlichtweg als Trash. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass die 1936 in Detroit geborene Autorin Marge Piercy, die in Nordamerika bereits Ende der 1970er Jahre die Zweite Frauenbewegung und die feministische Theoriebildung inspirierte, im deutschsprachigen Raum erst verspätet rezipiert wurde. Dass sie hierzulande überhaupt wahrgenommen werden konnte, verdankt sich dem Lektor Wolfgang Jeschke, der seit Mitte der 1960er Jahre für den Münchner Heyne Verlag internationale Science-Fiction herausgab. 1986 - zehn Jahre nach Veröffentlichung der englischen Originalausgabe - erschien die deutschsprachige Erstausgabe von Marge Piercys Roman »Woman on the Edge of Time« unter dem Titel »Die Frau am Abgrund der Zeit«. Nicht nur das allein zeugt von Jeschkes Gespür für visionäre Zukunftsentwürfe. Neben Piercy machte er auch einflussreiche sozialkritische Autor*innen der literarischen New-Wave-Bewegung aus den USA, wie Ursula K. LeGuin, oder marginalisierte Stimmen, wie die afro-amerikanische Sci-Fi Autorin Octavia E. Butler, für den deutschsprachigen Raum zugänglich. Da Heyne als großer Publikumsverlag auf kostengünstige Produktionen setzte, wurden die Texte zwar in großer Auflage gedruckt, die Übersetzungen waren aber schlecht bezahlt und oft eher Nacherzählungen des Inhalts.

Utopisches Begehren

Der Argument Verlag war es schließlich, der einige dieser Übersetzungen sorgfältig überarbeiten oder neu anfertigen ließ. Seit 1988 wird die Theoriesektion des Argument Verlags vom feministischen Literaturprogramm Ariadne flankiert. Hier erscheint bis heute politische Kriminalliteratur, eine Zeit lang gab es daneben auch Science-Fiction und Fantasy. Gegründet wurde Ariadne von der marxistisch-feministischen Theoretikerin Frigga Haug, die gemeinsam mit Wolfgang Fritz Haug die Herausgabe der Zeitschrift »Das Argument« und das Wissenschaftsprogramm des Verlags verantwortet. Wie Else Laudan, seit 1989 Leiterin des Ariadne-Programms, im Gespräch mit dem »nd« erinnert, war der Hunger nach guter »feministischer Literatur-Landnahme« zu dieser Zeit groß. Ziel war es zum einen, sozialkritische Autor*innen zu verlegen, die die kriminalliterarischen Hauptrollen mit Frauen besetzten - dies war in den 1980er Jahren alles andere als selbstverständlich. Zum anderen sollte das Genre aus der belletristischen Schundecke heraus in den Kontext herrschaftskritischer Gegenwartsliteratur gestellt werden.

Ähnliches hatte der Verlag in den 1990ern auch für Zukunftsromane im Sinn. »SF« stand bei Ariadne für »Social Fantasies«, nicht für »Science-Fiction«. Im Fokus standen also weniger wissenschaftlich-technische Fiktionen und eskapistische Weltraumfantasien, sondern Entwürfe einer Gesellschaft, wie sie in der Vergangenheit möglich gewesen wäre oder zukünftig möglich sein könnte. Verlegt wurden in der Reihe Texte, die von einem utopischen Begehren motiviert waren, mit literarischen Mitteln emanzipatorische Möglichkeitsräume ausloteten und damit einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart herstellten. »Speculative Fiction«, eine Wendung, die in der US-amerikanischen Debatte als Alternative zum enger gefassten Science-Fiction-Begriff verwendet wird, ist für dieses Subgenre überaus treffend.

Nahezu idealtypisch verwirklicht findet sich der spekulative Möglichkeitssinn in Marge Piercys frühem Roman, der 1996 in neu bearbeiteter Übersetzung unter dem leicht veränderten Titel »Frau am Abgrund der Zeit« im Argument Verlag erschien. Hier stehen gleich zwei mögliche Zukünfte am Horizont einer von patriarchaler Gewalt und sozialen Verwerfungen durchdrungenen Gegenwart. Im Modus des sozialen Realismus erzählt der Roman vom Überlebenskampf der Chicana Connie Ramos. Geprägt von lebenslanger Armut, Sexismus und institutioneller Gewalt, zwangseingewiesen in eine psychiatrische Anstalt und unter Psychopharmaka gesetzt, versucht sie der autoritären Willkür des Staates zu entkommen - bis Luciente, eine Figur aus der Zukunft mit ihr Kontakt aufnimmt. Luciente entführt Connie in eine utopische Welt des Jahres 2137: Ein dreißigjähriger Krieg hat große Teile der Erde zerstört, doch ist es der Revolution gelungen, eine neue Gesellschaft hervorzubringen. Die Sachwalter*innen des Kapitalismus sind zurückgedrängt, buchstäblich auf den Mond katapultiert oder umkreisen in fernen Raumstationen die Weltkugel.

Vorgeführt wird Connie eine anarcho-kommunistische Gemeinschaft, die kooperativ geplant und ökologisch nachhaltig organisiert ist. Die Produktion ist technologisch so hoch entwickelt und automatisiert, dass die Arbeitszeit auf wenige Stunden täglich reduziert ist. Luxus wird genauso konsequent vergemeinschaftet wie Kindererziehung, Liebe und Reproduktionsarbeit. Anstelle von Autos gleiten lautlose Luftkissen von Ort zu Ort, man kommuniziert mit Katzen und Delfinen und feiert ausschweifende Feste. Das armbandartige Kenner-Gerät, das alle tragen, mag an die Uhr im Sortiment des heutzutage weltgrößten Computerherstellers erinnern, dient aber nicht der kapitalistischen Verhaltensauswertung und -kontrolle, sondern ist nur enzyklopädisches Hilfsmittel. So schön diese Zukunft klingt, so prekär ist sie: Bald wird klar, dass die utopische Gesellschaft durch ihr dystopisches Gegenbild bedroht ist. Connies Gegenwart markiert dabei einen Wendepunkt der Geschichte, denn ob sich die Utopie realisiert, hängt vom Handeln in der Gegenwart ab.

Uneingelöste Versprechen

Aus heutiger Sicht besonders visionär an »Frau am Abgrund der Zeit« erscheint neben der Kollektivierung von Care-Arbeit und Kindererziehung die detailliert entwickelte Vision der Überwindung von Zweigeschlechtlichkeit - diskursiv wie gesellschaftlich - sowie die Idee der Automatisierung des Gebärens und der Außerkraftsetzung biologischer Genealogien von Familie, Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit. Die literarische Utopie aus dem Jahr 1976 war nicht nur ihrer, sondern ist auch noch unserer Zeit voraus. Fünfundvierzig Jahre nach ihrem Erscheinen sind einige dieser Versprechen zwar auf der Agenda emanzipatorischer Bewegungen, nach wie vor sind sie aber alles andere als eingelöst. Queer-feministische Bewegungen, die neben sprachpolitischen Themen auch marxistisch orientierte Fragen nach den (Re-)Produktionsbedingungen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in den Blick nehmen, beziehen sich allerdings eher selten auf Marge Piercy. Als Vorbild dient hier häufig die ungleich prominentere US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway. Doch ist diese in ihrer Theoriebildung maßgeblich von Piercy und anderen Science-Fiction-Autor*innen geprägt - bis heute.

Cyborg als Sinnbild

Donna Haraways berühmtes »Manifest für Cyborgs«, das Frigga Haug zufolge fast die marxistisch-feministischen Lesezirkel der Zweiten Frauenbewegung gespalten hätte, erschien zuerst 1985 im »Socialist Review«. In deutscher Übersetzung wurde es 1995 in die Essaysammlung »Monströse Versprechen« aufgenommen, die im Argument Verlag die marxistisch-feministische Schriftenreihe begründete. Im Vorwort der Neuauflage von 2017 erinnert Frigga Haug, die eine jahrzehntelange Freundschaft mit Donna Haraway verbindet, daran, dass es 1981 auf dem Kongress »Socialism in the World« für Frauen ein Extraprogramm mit Ausflügen, Modeschauen und Kuchen gab. Ein feministischer Einspruch schien also mehr als überfällig. Der zentrale Impuls des Manifests von Haraway war, einer den weiblichen Körper naturalisierenden Technikkritik, wie sie in differenzfeministischen Kreisen vertreten wurde, emanzipatorische Perspektiven der Nutzung von Biotechnologien entgegenzusetzen - und gerade dieser Ansatz ist mitunter stark von Piercys »Frau am Abgrund der Zeit« inspiriert. Um die Gentechnologie nicht der Vereinnahmung durch Markt und Kapital zu überlassen - was einer umfassenden kapitalistischen Kontrolle des Lebens gleichkäme - skizziert Haraway politische Möglichkeiten, die sich für den Bereich Reproduktion, Landwirtschaft und Industrie eröffnen. Der Cyborg ist dabei Sinnbild einer Gentechnik, die für die Aufhebung der herrschaftssichernden Grenzen zwischen Natur und Technik, Mensch und Maschine, Körper und Geist sorgt.

Das Manifest bildet den Anfang eines fruchtbaren Ideenaustauschs zwischen feministischer Theorie und Science-Fiction. In ihrem 1993 bei Ariadne erschienenen Roman »Er, Sie und Es« (engl. »He, She and It«, 1991) greift Marge Piercy wiederum die Idee des Cyborgs und das Thema der künstlichen Intelligenz auf und knüpft Parallelen zu jüdischen Golem-Mythen. Die utopische Zukunft ist in »Er, Sie und Es« noch prekärer als in »Frau am Abgrund der Zeit«. Der emanzipatorische Gegenentwurf existiert nur noch als Refugium inmitten einer dystopischen Welt, in der Israel und Teile des Nahen Ostens infolge eines nuklearen Terroranschlags von der Landkarte verschwunden sind. Zudem hat der durch die Zerstörung der Ozonschicht verursachte Klimawandel, gefolgt von Seuchen und Hungersnöten, gravierende Verheerungen hinterlassen. Wenige Konzerne teilen sich die Welt, menschliches Leben ist nur noch unter schützenden Kuppeln möglich, da in der jenseitigen Wüstenlandschaft der Hitzetod droht. An den Rand der Meere gedrängt, existieren einige unabhängige sozialistische Städte wie die jüdische Stadtgemeinde Tikva, die ein Cyborg vor den Cyberangriffen der herrschenden Multis schützen soll. Ob nun der Cyborg, der zur Tarnung erst noch menschlich sozialisiert werden muss und dabei ein bisschen zu empfindsam wird, die monströsen Versprechen einlöst und als Waffe zur Bekämpfung der kapitalistischen Ordnung taugt, bleibt eine offene Frage.

Als Buch über eine digitalisierte Welt nach der Klimakrise ist »Er, Sie und Es« von überaus bedrückender Aktualität. Entsprechend passt, was in den 1980ern als »Cyberpunk« bezeichnet wurde, heute auch unter das aktuell gehypte Label Cli-Fi, »Climate Fiction«. Ein Neu- und Wiederentdecken von Marge Piercys umfangreichem Werk lohnt also nicht nur aus Neugier an sozialistisch-feministischen Entwürfen der Vergangenheit, sondern auch mit Blick auf die multiplen Krisen der Gegenwart.

Eine Neuübersetzung von »Frau am Abgrund der Zeit« soll 2022 im Argument Verlag erscheinen.

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