Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien: Es gibt noch viel zu tun

Claudia Piñeiro über die Situation der Frauen in Argentinien und ihre literarischen Ansprüche

  • Interview: Knut Henkel
  • Lesedauer: 6 Min.
Claudia Piñeiro in Barcelona, Spanien, wo sie 2019 den Pepe Carvalho Award erhielt, der nach einer Romanfigur des spanischen Schriftstellers Manuel Vázquez Montalbán benannt ist.
Claudia Piñeiro in Barcelona, Spanien, wo sie 2019 den Pepe Carvalho Award erhielt, der nach einer Romanfigur des spanischen Schriftstellers Manuel Vázquez Montalbán benannt ist.

»Kathedralen«, Ihr vielleicht politischstes Buch, hat in Argentinien für Schlagzeilen gesorgt. Warum haben Sie das Problem der illegalen Schwangerschaftsabbrüche in das Zentrum des Buches gestellt und damit Angriffe seitens der katholischen Kirchen und der katholischen Glaubensgemeinschaft von vornherein riskiert? Provozieren Sie gerne?

Interview

Claudia Piñeiro, 62, ist Argentiniens derzeit erfolgreichste Schriftstellerin. Mit dem Roman »Kathedralen«, in dem es um einen 30 Jahre zurückliegenden, mysteriösen Todesfall geht, hat sie einen Frontalangriff auf religiöse Scheinheiligkeit gestartet, der maßgeblich mit zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in ihrer Heimat im Dezember 2020 beigetragen hat. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universidad de Buenos Aires arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Radiosender, bevor sie sich gänzlich der Schriftstellerei widmete. Im Unionsverlag erschien Anfang dieses Jahres auch auf Deutsch ihr Roman »Kathedralen« (320 S., geb., 24 €).

Auch für dieses Buch wie für alle meine Bücher gibt es einen Auslöser, ein Bild, das sich tief in mein Gedächtnis gegraben hat. Das Bild einer jungen Frau, die nass vom Regen in eine Kirche flüchtet, sich in die letzte Bank setzt und Trost sucht, den sie nicht findet. Das war das inspirierende Moment, und parallel dazu ist vieles in Argentinien passiert, was einen Einfluss auf die Entwicklung des Romans hatte – der sich um ein vor 30 Jahren begangenes Verbrechen dreht. In der Zeit, in der ich das Buch schrieb, zwischen 2017 und 2019, nahm die Debatte über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Fahrt auf und ich war mittendrin.

Eigentlich haben Sie sich mit der Problematik auch schon früher befasst …

Ja, das Thema habe ich immer wieder aufgegriffen. In »Tuya« aus dem Jahr 2005 oder in »Elena weiß Bescheid«, zwei Jahre später sind auch schon Schwangerschaftsabbruch und die Bevormundung der Frau präsent. Mit der Lage der Frauen bei uns beschäftige ich mich schon lange und werde dies auch weiterhin tun. Schriftsteller und Schriftstellerinnen sollten aus meiner Sicht den Anspruch verfolgen, nicht nur den Alltag ihrer Landsleute zu reflektieren, sondern auch gesellschaftliche Interventionen wagen.

Es ist also auch ein sehr persönliches Buch, in dem Sie eigene Beobachtungen und Berührungen einfließen ließen und zugleich damit selbst in die gesellschaftlichen Diskussion in Ihrer Heimat über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eingreifen wollten?

Ja, das kann man so sagen. Die Situation der Frauen in Argentinien war viel zu lange prekär, um nicht endlich debattiert zu werden. Vor allem wenn Frauen schwanger waren und das Kind nicht wollten. Wenn ein Schwangerschaftsbruch nicht legal ist, kann Abtreibung lebensgefährlich sein – und außerdem wurde sie auch noch mit einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet. Jedes Jahr starben bis zu 3000 Frauen an illegalen Abbrüchen. Darüber habe ich immer wieder geschrieben – meist eingebettet in einen anderen größeren Kontext. Das fiel nicht so auf, weil es nicht das zentrale Thema in den Romanen war. Für mich als Frau und Feministin war dies aber unwürdige. Die Situation von ungewollt schwangeren Frauen sollte offen diskutiert werden, ihnen sollte geholfen werden.

Mittlerweile gibt es einen Erfolg zu verzeichnen.

Im Dezember 2020 wurde das Gesetz zum legalen Schwangerschaftsabbruch schließlich verabschiedet, wofür allerdings erst einmal viel Druck von unten nötig war. Noch 2018 war das Wort »aborto«, Schwangerschaftsabbruch, ein Tabu, wurde nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen. Ich war in der argentinischen Frauenbewegung aktiv, diskutierte mit Politiker*innen über die Gesetzesvorlage, über die Widerstände der Kirchen, katholische wie evangelikale, und musste mir viele Floskeln und Ausflüchte anhören. Darunter von männlichen Politikern, die befürchteten, bei der Rückkehr in ihren Wahlkreis vom lokalen Bischof angerufen zu werden, vom Priester von der Kanzel vor den eigenen Kindern kritisiert zu werden. Argumente, die sie immer wieder anführten, um gegen das Gesetz zu stimmen, das die Leiden von Tausenden von Frauen beenden sollte.

Scheinheilig?

Ja, ohne Zweifel. Enttäuschend war auch, dass Papst Franziskus, ein Argentinier, der doch als Hoffnungsträger angetreten war, sich in einer für uns sehr befremdlichen Art zu Wort meldete. Er bezeichnete Ärzt*innen, die bereit waren, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, als »Killer mit weißen Handschuhen«. In dieser vergifteten und hochemotionalen Atmosphäre entstand der Roman »Kathedralen«. Ana Sardá, das 17-jährige Opfer, hätte nach damaligem argentinischen Recht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden können. Sie ist in meinem Roman an einer illegalen Abtreibung gestorben und anschließend entsetzlich verstümmelt und entstellt worden. Die Verantwortlichen für ihr grausiges Schicksal wären auch im wahren Leben in Argentinien straffrei ausgegangen. Eine bittere Realität.

Das Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bedeutete also ein Quantensprung für den gesellschaftlichen Fortschritt in Argentinien?

Es ist zweifellos ein großer Durchbruch. Aber aus der Perspektive der Frauenrechte und Gleichberechtigung gibt es weiterhin noch viel zu tun. Man denke allein die Femizide: In Argentinien stirbt jeden Tag eine Frau, nur weil sie Frau ist. Oftmals aus einer Laune heraus zu Tode geprügelt oder ermordet. Das sind nicht hinnehmbare Zustände, auf die ich auch in meinen Büchern eingehe, beispielsweise im Roman »El tiempo de las moscas« (Zeit der Fliegen), das in Deutschland im nächsten Jahr erscheinen wird.

2021 haben Sie den spanischen Kriminalpreis, den »Premio Hammett«, für »Kathedralen« erhalten – war das eine Überraschung?

Oh ja, und es war eine große Freude, denn ich habe schon länger davon geträumt, diesen Preis einmal zu erhalten, weil mich das den Preis stiftende Festival von Gijon in Spanien schon immer begeisterte. Krimis sind ein Genre mit vielen Facetten, die sich ständig wandeln. Ich glaube, zu Recht sagen zu können, dass »Kathedralen« dafür ein Beispiel ist. Der Roman wurde ausgezeichnet, obwohl es am Ende kein Verbrechen gibt und die typischen Fragen eines Kriminalromans zwar gestellt, aber nicht beantwortet werden. Obwohl es sich um eine fiktive Handlung handelt, sind hier gesellschaftliche Prozesse und Konflikte beschrieben. Bei Kriminalromanen muss es nicht immer nur um Mord und Totschlag und die Ermittlung der Täter gehen.

Obendrein hat »Kathedralen« eine eher widersprüchliche Erzählstruktur. Der mutmaßliche Täter wird dem Leser nach mehr als 120 Seiten präsentiert, wenn der Tod Anas und dessen Hintergründe aus der Perspektive der wichtigsten Protagonisten erzählt werden.

Da haben Sie recht, meine Zeugen sind von ganz unterschiedlichem Charakter und in sich auch sehr widersprüchlich. Sie erinnern und reflektieren Anas Tod jedes Mal auf eine andere Weise. Und sie übernehmen, wie etwa Carmen und Julián, mit dem Verweis auf Gottes Willen keine Verantwortung oder auch nur in engen Grenzen. Einzig Alfredo Sardá, der Vater von Ana, stellt sich seiner Verantwortung. Das ist widersprüchlich, kontrovers und gewollt.

»Kathedralen« ist Ihr meistverkauftes Buch in Argentinien. Hat sich Ihr Leben seitdem grundlegend verändert? Markiert es einen Wendepunkt in Ihrer öffentlichen Wahrnehmung?

Nein, »Kathedralen« ist ein großer Erfolg, aber auch »Elena weiß Bescheid« und mein neuestes Buch »Zeit der Fliegen« sind Verkaufsschlager. Allerdings ist »Kathedralen« außergewöhnlich, denn es erschien zu Beginn der Pandemie und mein Verlag wie auch ich befürchteten, dass es dadurch zu einem Flop werden könnte. Doch dann erklärte die Regierung Buchhandlungen und Büchereien inmitten eines bereits sechs Monate währenden Lockdowns als überlebenswichtig und erlaubte den Buchverkauf an der Tür. Dadurch wurde »Kathedralen« zu einem großen Erfolg. Obendrein ist es dieser Roman, der mir die meisten Leserbriefe beschert hat.

Wissen Sie schon, womit Sie sich in Ihrem nächsten Roman beschäftigen werden? Wird es wieder um Frauenrechte gehen?

Nein, und ich schreibe nicht nur über die Lage der Frauen in Argentinien und über unsere Kämpfe um Gleichberechtigung und gesellschaftliche Anerkennung. Ich kann und will aber noch nichts verraten.

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