»Immer wieder diese Unruhe«

Wer war Wolfgang Pohrt und was würde er heute sagen? Ein Gespräch zum fünften Todestag des Essayisten und Soziologen

Im Kampf gegen Presse, Podien und Publika: Wolfgang Pohrt, Ende der 70er Jahre.
Im Kampf gegen Presse, Podien und Publika: Wolfgang Pohrt, Ende der 70er Jahre.

Christof Meueler: Vor fünf Jahren starb Wolfgang Pohrt. Und dann starben auch noch Droste, Gremliza und Enzensberger. Ist der Typus des linken publizistischen Einzelkämpfers, wegen dem man sich eine Zeitung kauft, überhaupt noch aktuell?

Klaus Bittermann: Publizistische Einzelkämpfer sind ja eigentlich nur Autoren, die sich auf dem freien Markt durchschlagen müssen. Nur wird es für sie enger, weil die Zeitungen langsam sterben. Aber es gibt sie noch. Eine Zeitung braucht man sich ihretwegen nicht zu kaufen. Man kann sie auch im Netz lesen.

Detlef Kannapin: Die Verbindung zu Wolfgang Pohrt lässt sich gut über Dietmar Dath ziehen, der sich mit ihm beschäftigt hat. Der ist ähnlich unbestechlich, produziert permanent und lässt sich auf der emanzipatorischen Ebene nicht lumpen.

Gespräch


Klaus Bittermann, Jahrgang 1952, ist Autor von 15 Büchern und seit 1979 Verleger der Edition Tiamat, die im Oktober den Berliner Verlags­preis erhielt. Dort hat er die Pohrt-Werkausgabe in 13 Bänden ver­öffent­licht. 2022 erschien seine Biografie über Wolfgang Pohrt: »Der Intellektuelle als Unruhestifter«.
Jakob Hayner, Jahrgang 1988, Kulturjournalist, zwischenzeitlich auch Redakteur für »nd«. Er arbeitet als freier Autor vor allem für das Feuille­ton der »Welt«. 2020 erschien von ihm »Warum Theater« bei Matthes & Seitz.
Detlef Kannapin, geb. 1969 in Berlin/DDR, Filmhistoriker, Publizist und Kurator der Filmreihe »3D – Deutsche Demokratische Dokumente«, verschiedene Veröffentlichungen zum Studium des Klassenkampfs.
Christof Meueler, Jahrgang 1968, leitet das Feuilleton des »nd«. Im Frühjahr erscheint von ihm »Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste«.

Bittermann: Aus meiner Sicht hat sich Dietmar Dath in gewisser Weise schon kaufen lassen. Was ja nicht schlimm ist. Aber als Leninist bei der »FAZ« zu arbeiten?

Meueler: Das ist besondere Dialektik. Beim Klassenfeind gegen den Klassenfeind, bezahlt vom Klassenfeind.

Bittermann: Es gibt etliche Leute bei der »FAZ«, die ich in mancher Hinsicht sehr gut finde, oder auch bei der »Süddeutschen« und selbst bei »Taz« und »Welt«. Das gibt es schon alles noch. Aber das Problem ist, dass es die großen Debatten, die in den 80ern stattgefunden haben, nicht mehr gibt. Nur noch kleinere feuilletonistische Empörungen, die sich nach kurzer Zeit wieder verflüchtigt haben. In den 80ern, der großen Zeit von Pohrt, gab es beim »Spiegel« brillante Autoren wie zum Beispiel Schultz-Gerstein, die richtig gute Analysen lieferten und nicht nur journalistische Standardware. So eine Debatte wie der Historikerstreit 1986 zog sich ein halbes Jahr hin.

Jakob Hayner: Ich habe diese goldenen Zeiten des Feuilletons, wie Klaus sie beschrieben hat, nicht selber miterlebt. Aber man kann doch heute feststellen, dass in der linken bundesrepublikanischen Kultur etwas weggebrochen ist. Das passiert weniger im Hochfeuilleton als in der linken Szene. Da hat sich ein Teil vielleicht in die Stiftungs-, NGO- oder Parteiarbeit verabschiedet, ein anderer Teil hat sich privatisiert, und der Rest zankt sich vielleicht in Facebook-Gruppen. Mit dem Debattenzusammenhang ist der Resonanzraum verloren gegangen und damit auch das Publikum für Solitäre wie Pohrt, der immer wieder diese Unruhe stiften konnte.

Bittermann: Das stimmt. Pohrt hat sich von Anfang an immer als Linker begriffen. Sein Ausgangspunkt war ’68. Und als diese Bewegung in ihre einzelnen Bestandteile wie Friedens-, Alternativ- und Zurück-aufs-Land-Bewegung etc. zerfiel, hat er sie in den Zeitungen, die ihn veröffentlichten, kritisiert. Das war sein Resonanzboden. Irgendwann aber gab es diese Linke, die sich auf ’68 bezogen hat, nicht mehr. Viele haben dann eben das Vaterland entdeckt.

Meueler: Wann war das, ab Mauerfall?

Bittermann: Schon zu Beginn der 80er, spätestens als die Republikaner Anfang 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen sind. Da hat Pohrt gesagt, er legt seinen Job als Ideologiekritiker nieder, er will das Feuilleton nicht länger mit lustigen Artikeln bedienen. Gegen die REPs müsse man mit anderen Methoden arbeiten, nämlich mit soziologischen. Und dann hat er Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung diese Studie über das »Massenbewusstein« in Deutschland angeboten, die sich an Adornos Studie über die »Autoritäre Persönlichkeit« aus den 40er Jahren anlehnte. Das fiel mit dem Mauerfall zusammen und hat ihn als Analytiker noch mal richtig herausgefordert. Die Studie erschien 1991 unter dem Titel »Der Weg zur inneren Einheit«. Damals gab es drei wesentliche Ereignisse: die Ausländerverfolgung, die ihm persönlich zugesetzt hat, den Zerfall Jugoslawiens, das ihm ja durch seine Frau Maria so etwas wie eine zweite Heimat war, und dann noch den Golfkrieg der USA gegen den Irak.

Meueler: Und danach hat Pohrt aufgehört, politische Essays zu schreiben.

Bittermann: Er hat danach noch einige Bücher geschrieben, unter anderem seine Banden-Studie »Brothers in Crime«. Aber nach dem Tod seiner Frau 2003 hat er sich völlig zurückgezogen.

Meueler: Hat er all diese Katastrophen vom Ende des Realsozialismus her gedacht?

Bittermann: Jedenfalls hat er das immer behauptet. Was ich bemerkenswert finde, denn für mich war der osteuropäische Sozialismus niemals eine Alternative. Wenn ich auf der Transitstrecke von Nürnberg nach Westberlin reiste, erschien mir dieses Land so monolithisch und abschreckend, dass ich nie gedacht hätte, der Realsozialismus könnte zerfallen.

Kannapin: Boris Groys hat das mal formuliert für die UdSSR, als er meinte, dieses System hatte keinerlei innere Opposition: Es war bewaffnet bis an die Zähne und war weder von außen noch von innen zu bekämpfen. Selbst bei der inneren ökonomischen Schwäche hätte es noch Jahrzehnte weiterexistieren können, niemand wäre verhungert. Es konnte nur abgeschafft werden.

Bittermann: Als Pohrt 2013 im »Allerletzten Gefecht« schrieb, der Kommunismus sei wie Regenwasser versickert, hat man ihm seine Empörung angemerkt. Das lässt darauf schließen, dass er im osteuropäischen Kommunismus zumindest ein Gegengewicht zum Kapitalismus gesehen hat.

Meueler: ... dass die Deutsche Bank an der DDR-Grenze haltmachen muss.

Kannapin: Das ist aber ein Argument – sowohl für die Westlinken als auch für uns, die wir in der DDR groß geworden sind. Um einige Sachen musste man sich nicht kümmern, um andere schon. Aber die Lebenshaltungskosten waren völlig außerhalb des Horizonts, das muss man immer bedenken, bei allen Defiziten. Und natürlich hätte da so ein Solitär oder Libertär wie Klaus Bittermann niemals seinen Verlag mit Pohrt und all den anderen Autoren machen können. Das hat die Partei auch so gesagt: Hauptverwaltung Verlage und fertig. Klaus Höpcke entscheidet und damit ist gut.

Meueler: Pohrt kam ja eigentlich von der Uni. Warum hat er 1980 seinen Job an der Hochschule Lüneburg aufgegeben?

Bittermann: Pohrt hatte als wissenschaftlicher Mitarbeiter einen total lockeren Job, aus heutiger Perspektive traumhaft. Er musste keinerlei Organisation und Bürokratie bewältigen und hatte die »Ein-Tage-Woche«, wie er mir mal schrieb, erfunden: Von Hannover bzw. Berlin nach Lüneburg fahren, das Seminar halten, dann wieder zurückfahren, und der Rest der Woche war frei. Aber er fand es deprimierend, in Lüneburg zu arbeiten vor Studenten, die mit der Kritischen Theorie nichts mehr anfangen konnten, von der er ja geprägt war. Doch ich kenne tatsächlich Leute, die sogar aus Hamburg nach Lüneburg angereist sind, um dort seine Seminare zu besuchen. Das heißt: Er ist als Wissenschaftler schon damals aufgefallen. Doch er hat die Uni als Ort empfunden, an dem man nichts bewirken kann. Er hätte ohne Probleme Professor werden können, das wurde ihm mehr oder weniger sogar angeboten. Aber er hat die Uni gehasst, vor allen Dingen seine Kollegen.

Hayner: Es gibt bei Pohrt etwas spezifisch Antiakademisches. Wenn man allein an seine Dissertation denkt, die »Theorie des Gebrauchswerts« – die legt direkt gegen die Professoralform des Marxismus los. Später gibt es Polemiken zum Staatsfeind auf dem Lehrstuhl, wo Pohrt sich dazu äußert, warum Adorno auf einem Lehrstuhl gelandet und warum das etwas anderes ist, als wenn seine gesamte Schülerschaft glaubt, sie müsse naturgemäß auch auf einem Lehrstuhl landen. Da gibt es eine große Abneigung dagegen, die Kritik zu institutionalisieren. Denn dann ist sie auch eingesperrt. Kritische Akademie heißt ja eben auch: Wirkungslosigkeit zu akzeptieren als eine Voraussetzung dafür, sein eigenes Zeug machen zu können.

Meueler: Es gibt in »Sexbeat«, dem Frühwerk von Diedrich Diederichsen, als er schon mit Ende 20 seine Memoiren vorlegte, die Formulierung »traurige Marxisten«, die er auf die französischen Filmemacher der Nouvelle Vague bezieht. Meine Soziologie-Professoren an der TH Darmstadt der 90er Jahre würde ich ebenfalls so nennen. Die waren der Meinung, die orthodoxe Frankfurter Schule sei nach Darmstadt umgezogen – nur hat das dort unter den ganzen Elektrotechnikern und Bauingenieuren kaum jemand mitbekommen. Das hatte auch etwas Jesuitisches.

Wolfgang Pohrt


In den 80er Jahren war der Soziologe und Publizist Wolfgang Pohrt der wichtigste Ideologiekritiker der westdeutschen Linken, der er nationalistische, autoritäre und antisemitische Tendenzen vorwarf. Dafür wurde er gehasst: Robert Jungk bezeichnete ihn als »verwirrten Typen«, der mit seiner »Aggressivität« nicht fertig werde; für Reinhard Mohr war er ein »deutscher Apokalyptiker«, und Hermann L. Gremliza nannte ihn einen »bürgerlichen Marxisten«. Er kam von der Kritischen Theorie und wollte aber lieber als Journalist als an der Universität arbeiten.
 Nach dem Mauerfall untersuchte er in zwei Studien das »Massen­bewusstsein« der Deutschen (»Der Weg zur inneren Einheit«) und »Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit« (»Brothers in Crime«) und zog sich sukzessive aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb am 21. Dezem­ber 2018 im Alter von 73 Jahren nach langer Krankheit. In der Edition Tiamat sind seine Werke in 13 Bänden erschienen – in ihrem blauen Einband sehen sie aus wie die von Marx und Engels.

Kannapin: Wirkung hin oder her: Warum war die Uni für Pohrt nicht einen Tag in der Woche auszuhalten, um ansonsten journalistisch zu arbeiten? »Die Theorie des Gebrauchswerts« sitzt man ja auch nicht auf einer Pobacke ab; auch wenn sie, wie Jakob sagt, nicht im akademischen Duktus geschrieben ist, so ist sie trotzdem von hohem Erkenntniswert.

Hayner: Aber nicht für den akademischen Marxismus.

Kannapin: Ich hatte ja schon Probleme, als ich 1994 an der Humboldt-Uni mit Soziologie konfrontiert wurde und Hans-Peter Müller von irgendwoher aus dem Südwesten auftauchte und über »Sozialstruktur und Lebensstile« sprach. Dem konnte ich schon nicht mehr mit Marcuses »Repressiver Toleranz« kommen. Damit konnte der nichts anfangen, aber er wusste schon, worum es geht. Doch er wollte das seinen Studenten nicht überhelfen. Stattdessen ging es um Operationalisierung.

Meueler: Das haben meine Professoren nicht verlangt. Empirie war für sie erstmal verdächtig.

Bittermann: Für Pohrt nicht. Man hat seinen Texten immer angesehen, worauf die rekurrieren und worauf die gründen. Christoph Türke hat damals gesagt, was er an Pohrt wirklich so bewundert habe, war, dass er es verstanden habe, die Theorie der Frankfurter Schule auf den Journalismus anzuwenden, ohne dass viel verloren gegangen sei. Das war die Kunst, und das war anspruchsvoller Journalismus, wo einem ansonsten meist nur Halbwissen angeboten wird.

Kanappin: Ich habe als ausgebildeter Soziologe nie jemanden methodisch so konsequent arbeiten sehen wie Pohrt in seiner Studie zur »Inneren Einheit«. Der Pretest geht schief, das ganze Modell geht eigentlich schief, aber die Skala ist richtig, und dann wendet er es eben unter seinen Bekannten an und kommt zu demselben Ergebnis wie Adorno. Es ist der Hammer, vor allen Dingen die Freilegung des methodischen Vorgehens. Das macht heute kein Soziologe mehr. Die schütten einen eher mit Statistik zu. Pohrt aber hat das ganz konsequent bis zum Ende durchdacht und hat festgestellt: Man kann sich im Grunde genommen auf niemanden verlassen, denn die Menschen sind bereit, anderen etwas anzutun.

Bittermann: Jakob, du hast in der »Welt«, als du Pohrts Briefe besprochen hast, die als letzter Band in der Pohrt-Ausgabe erschienen sind, gefragt: Was würde Pohrt heute sagen? Ich finde aber, dass Pohrt auf die heutige Zeit nicht so einfach anzuwenden ist. Für Pohrt hat immer der Grundsatz gegolten, dass die Wahrheit einen zeitlichen Kern hat. Was wahr ist, ist also davon abhängig, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse sich entwickeln. Und die sind heute anders als in den 90er oder nuller Jahren. Die Ausländerverfolgung, die Pogrome Anfang der 90er, gab es später nicht mehr in dem Maße, wie Pohrt 2004 in »FAQ« schrieb. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Ausländerverfolgung praktisch zur Staatsräson, als Schröder den »Aufstand der Anständigen« ausrief. In diesem Moment geht es dann darum zu fragen: Was steckt hinter dieser Politik? Das heißt nicht, dass Pohrt die vorhandene Ausländerfeindlichkeit geleugnet hätte, aber in dem Moment, wo der Staat, sich dieses Problems annimmt, geht es für einen Soziologen um andere Fragestellungen. Die Haltung, grundsätzlich misstrauisch gegen den Mainstream zu sein, die Pohrt auszeichnete, hätte für ihn heute vermutlich keinen Bestand mehr, denn der sich austobende Antisemitismus angesichts der Tatsache, dass sich Israel zur Wehr setzt, hätte ihn vermutlich ziemlich in Rage versetzt. Es ist also falsch, Pohrt vorzuwerfen, er habe seine Meinung wie seine Hemden gewechselt.

Hayner: Was er ja über sich selbst gesagt hat.

Kannapin: Das würde ich mittlerweile komplett anders sehen. Ich habe 2012 eine Polemik gegen seinen Band »Kapitalismus forever« geschrieben und fand, da sei er hinten runtergefallen, habe sozusagen seinen Frieden mit allen gemacht. Wenn man das aber im Nachhinein noch mal liest, dann stellt man fest, dass sich an Pohrts Grundpositionen nicht viel geändert hat. Nur die Sachlage ist eine andere. Er weiß nicht mehr, mit wem er kämpfen soll, also muss er sehen, wie er sich selber positioniert. Das gilt auch für »Das allerletzte Gefecht«: Man muss seine späteren Texte lesen, um dann auf seine früheren zurückzukommen. Und natürlich hätte er in so einer Kriegssituation wie jetzt nicht geschwiegen, da bin ich mir ziemlich sicher.

Bittermann: Es findet ja nicht nur eine Veränderung der Gesellschaft statt, sondern auch eine bei einem selbst. Als Pohrt mir »Kapitalismus forever« angeboten hat, war ich beim ersten Lesen ziemlich enttäuscht, weil ich dachte, jetzt erklärt er schon wieder, wie das damals ’68 gewesen ist. Aber als ich die Werkausgabe gemacht und die Biografie geschrieben habe, sind mir darin Gedanken aufgefallen, die wirklich toll sind. Allein wenn er anmerkt, dass in den 60ern mit der Weltraumfahrt zum Mond ein Bewusstsein herrschte: Alles ist möglich. Und deswegen war es für die damalige Generation völlig normal zu sagen: Wir machen jetzt eine Revolution. Obwohl ja nichts absurder war als das: mit ein paar Studenten Revolution machen zu wollen.

Kannapin: So wie in »Rote Sonne«, dem Film von Rudolf Thome, einer sagt: »Na ja, wenn wir das Wetter ändern müssen, ändern wir eben das Wetter für die Revolution, ist doch klar.«

Hayner: Noch mal zur Frage »Was würde Pohrt heute sagen?«. Er hatte in den 80ern an der Friedensbewegung einiges auszusetzen, hat sie als »deutschnationale Erweckungsbewegung« bezeichnet. Wenn aber heute die Massen mit ihren Ukraine-Fähnchen wedeln und ihre Instagram-Profile damit schmücken, dann sind sich alle einig, dass, wer vom Frieden redet, als Putinist, mindestens als Friedensschwurbler zu gelten habe. Die marode Friedensbewegung ist nun keine nationale Erweckungsbewegung mehr, sondern nationales Feindbild. Deshalb kann man nicht sagen: 1982 gilt derselbe Pohrt wie 2023. Das Pohrt’sche Denken bietet uns trotzdem die Kategorien und die Begriffe und irgendwie auch den nötigen Schmiss, den nationalen Konsens zu analysieren: Heute ist nicht die Kriegsgegnerschaft, sondern die Kriegsbefürwortung tonangebend. Wer für den Frieden ist, kann nicht mehr für den Westen und für die Freiheit und was auch immer sein. In nahezu allen politischen Fragen heute gibt es im Großen und Ganzen nur Zustimmung. Und die geht bis zu dem Flügel der Linken oder der Regierung, der alles mitmacht, aber immer mit Bauchschmerzen. Abschiebung und Aufrüstung mit Bauchschmerzen.

Meueler: Konstant ist aber seine Kritik am Genozidbegriff, den damals die Friedensbewegung ebenso bemüht hat wie heute die Palästina-Solidarität. Für ihn gilt der Genozidbegriff für den industriellen Massenmord an den Juden und sonst eben nicht. Diese Kritik scheint mir von der Linken nicht reflektiert worden zu sein.

Kannapin: Welch ein Wunder, dann müsste man ja nachdenken. Und vor allen Dingen ist gerade die Inflationierung dieser Art von Begriffen wie Genozid und Ähnlichem ein ganz klarer Ausweis, dass wir mitten in der Barbarei sind, weil eben diese Reflexionsebene fehlt. Wie Klaus schon gesagt hat: Heute gibt es genügend Anlässe für große Debatten, aber die Debatten finden nicht statt.

Meueler: Immer wenn die Feuilletons von Debatten sprechen, sind es keine.

Hayner: Es gibt diese interessante Bemerkung von Pohrt, dass die großen Feuilletons auf die Finanzkrise 2008 mit Debatten über Alternativen zum Kapitalismus reagierten. Und er fragte: Warum fangen die jetzt damit an? Das ist nach Pohrt ganz einfach: Sie wissen selber, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt oder dass diese unter den jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen zumindest nicht von den Debatten, die im Feuilleton geführt werden, abhängt. Diese Debatten haben also etwas zutiefst Illusionäres. Illusionspflege und Bekenntnisrituale ist Pohrt immer direkt angegangen, und das völlig zu Recht.

Meueler: Ist Pohrt nun nach der dieses Jahr mit dem 13. Band abgeschlossenen Werkausgabe bekannter als vorher?

Bittermann: Das lässt sich schlecht sagen. Als ich zu Vorträgen über Pohrt eingeladen wurde, habe ich schon gemerkt, dass es an den Unis auch jüngere Studenten gibt, die sich wieder mit ihm beschäftigen. Das ist natürlich alles im Promillebereich, aber trotzdem. Und es gab immerhin 200 Leute, die die Werkausgabe subskribiert haben. Ohne sie hätte ich damit gar nicht anfangen können.

Meueler: Welche Bände liefen denn am besten?

Bittermann: Die »Theorie des Gebrauchswerts«, »Brothers in Crime«, »Der Weg zur inneren Einheit« und der Band mit den seinen zwei letzten Werken »Kapitalismus Forever« und »Das allerletzte Gefecht«. Die Bände mit den Texten aus den 80ern haben sich nicht so gut verkauft, was ich schade finde, weil ich ja gerade sein essayistisches Werk so toll finde.

Meueler: Und warum ist er verstummt?

Bittermann: Er hat sich 1993 mit »Konkret« überworfen, als beim »Konkret«-Kongress Christoph Türcke einen Vortrag hielt, in dem er Überlegungen anstellte, ob es ein biologisches Substrat gebe, das es gestattet, Menschenrassen voneinander zu unterscheiden. Da hat Pohrt gesagt, dass er nicht mehr für »Konkret« schreibt, und sich dann zurückgezogen. Seine »Brothers in Crime«-Studie hat er noch im Auftrag des Instituts geschrieben, aber weil Reemtsma nichts damit anfangen konnte, blieb sie zunächst unvollendet. Ich musste ihn erst überreden, sie fertigzustellen.

Hayner: Er hat aber Ende der 90er Jahre wieder begonnen für »Konkret« zu schreiben. Da gibt es auch diese berühmten Selbstinterviews. Und dann wollte er ein Interview mit Milošević machen, woraus ja nichts geworden ist.

Bittermann: Diese Interviews mit sich selbst, das waren Nachzügler. Er hatte nicht mehr den Draht zu »Konkret« und hat dann nur noch hin und wieder Vorträge gehalten, wenn er gefragt wurde. Außerdem gab es 2003 diese Tempodrom-Geschichte, die völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Kurze Zeit später starb seine Frau Maria. Danach schien es ihm sinnlos, weiter Artikel zu schreiben.

Meueler: Bei der Diskussion im Tempodrom mit Henryk M. Broder wollten ihn die Antideutschen als ihren Vordenker feiern, aber er hat sich dem verweigert und gemeint, dass nicht der Antisemitismus in Deutschland das Problem sei, sondern der Zerfall des Sozialstaats und die wachsende Armut. Und er fand anschließend, dass Broder die bessere Performance hinlegte, weil er selbst immer nur vom Blatt ablesen konnte.

Bittermann: Das war sein Stil. Er hat sich immer sehr präzise vorbereitet und schon immer alles ausformuliert, wenn er wo aufgetreten ist.

Meueler: Das ist der Gelehrtenstil.

Bittermann: Wenn du so willst – ja. Aber er wollte mit seinem ausformulierten Referat eine Ausgangsbasis für die anschließende Diskussion liefern. 2003 im Tempodrom war die Diskussion eine Katastrophe.

Hayner: Pohrt war in Diskussionen extrem schlagfertig. Das kann man sich auf Youtube anhören; in den Anmerkungen steht dann: »Pohrt gegen das Podium« oder: »Pohrt gegen das Publikum«. Und er hat gewonnen!

Bittermann: Er brauchte einen Widerpart, mit dem er in Konfrontation gehen konnte, das war ganz wichtig. Sich einfach hinstellen und einen Vortrag aus dem Ärmel schütteln, das konnte er tatsächlich nicht. Cohn-Bendit konnte das, aber da kam ja auch meistens Quatsch raus.

Kannapin: Zurück zum Tempodrom 2003: Einen besseren Kontrahenten als Broder kann es doch gar nicht geben, oder?

Bittermann: Na ja, Broder und Pohrt waren in den 80ern ja nicht weit auseinander. Es war Broder, der schon 80/81 vom linken Antisemitismus gesprochen und Pohrt und Eike Geisel darauf gebracht hat, sich damit auseinanderzusetzen. Pohrt hat den Standpunkt, von dem Broder aus argumentiert, hinterfragt. Es gibt dieses lange Interview von ihm mit Broder, wo er ihm total auf die Nerven gegangen sein muss, durch ständiges Nachbohren.

Meueler: Verblüffenderweise ließ sich Pohrt dann im Nebenberuf zum Computerfachmann ausbilden, sozusagen im Selbststudium mit Handbüchern. Aber es gibt jetzt keine größeren Texte von ihm über Digitalisierung.

Bittermann: Weil er ein Praktiker war.

Hayner: ... der an den Geräten herumgeschraubt und sich DVDs gebrannt hat, den ganzen Tarantino und Ähnliches.

Bittermann: Da gab es am Ende ganze Waschkörbe voll mit Festplatten, auf denen Filme drauf waren, die er sich schwarz runtergezogen hat. Anfang der 90er hat er begonnen, sich mit der Technik zu beschäftigen, als ich noch abgewunken habe: Das verstehe ich sowieso nicht. Die üblichen Vorbehalte, die man im Laufe des Alters entwickelt, die hatte er überhaupt nicht. Diese neue Technologie hat ihn wahnsinnig interessiert: diese Anforderung, dahinterzukommen, wie etwas funktioniert. Im Zusammenhang mit der Massenbewusstseinsstudie war das ja auch wichtig, Statistikprogramme benutzen zu können. Deswegen war er überhaupt in der Lage, diese Studie zu machen. Er war da ein wirklicher Technikfreak.

Hayner: Eigentlich auch gelernter Schlosser – im Erstberuf, oder?

Bittermann: Ja, in den 60ern, als er die Schule hingeschmissen hat und nach Westberlin abgehauen ist, musste er ja von irgendwas leben. Dann hat er bei Siemens eine Anstellung als Schlosser gefunden, das Abitur im Abendkurs nachgeholt und angefangen zu studieren. Für das »Kursbuch« hat er seinen ersten Artikel geschrieben, über »Wegwerfbeziehungen«. Da steht hinten bei den Autorennotizen: »Wolfgang Pohrt ist Schlosser.« Das hat für ihn damals tatsächlich eine Rolle gespielt: sich als arbeitender Genosse vorzustellen.

Kannapin: Wenn Autoren zu Werkausgaben und damit zu Klassikern werden, dann ist nicht die Frage, was Pohrt heute gedacht hätte, sondern: Wie kann man ihn als Denkhilfe benutzen?

Meueler: Das ist die Hausaufgabe.

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