Und jährlich ruft die Grippe-Impfung

Die Bereitschaft zum Influenza-Schutz hält sich bei den Risikogruppen in Grenzen. Sollen die Kinder ran?

Influenza-Viren zur Produktion von Grippe-Impfstoffen werden wie hier beim russischen Hersteller FORT in Hühnereiern gezüchtet.
Influenza-Viren zur Produktion von Grippe-Impfstoffen werden wie hier beim russischen Hersteller FORT in Hühnereiern gezüchtet.

Neulich in einer Hausarztpraxis im Süden Berlins: »Können Sie feststellen, ob ich vielleicht Influenza habe?«, möchte ein gut 60-jähriger Patient in der Akutsprechstunde von der Medizinerin wissen. Der Covid-Test war negativ, die Symptome – Fieber, Schlappheit, Reizhusten, Kopfschmerzen – könnten auf alles Mögliche hindeuten. »Das sieht mir nicht nach Grippe aus«, winkt die Ärztin ab. Einen Nachweis, den nur eine aufwendige Blutuntersuchung im Labor erbringen kann, hält sie für nicht nötig.

Dass nur richtig schwere Krankheitszeichen auf dem Radar sind, ist eher der Normalfall. Dabei betrifft das nach Schätzungen nur etwa jeden Dritten, der sich mit der jährlich wiederkehrenden Influenza infiziert hat. Schätzungen zufolge erkranken je Grippesaison, die irgendwo zwischen Anfang Dezember und Ende April liegt, etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder und etwa 10 bis 15 Prozent der Erwachsenen an Influenza. Erst wenn sich die Lage in den Krankenhäusern zuspitzt, wird eine Grippewelle als Problem wahrgenommen. Oder wenn die Zahl der Toten hoch ist – in manchen Jahren sind es hierzulande einige Hundert, es können aber laut Robert-Koch-Institut (RKI) schon mal 25 000 sein.

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Das RKI hat den Start der diesjährigen Grippewelle auf Mitte Dezember terminiert. Dies ist laut offizieller Festlegung dann der Fall, wenn in mehr als jeder fünften Patientenprobe, die im zuständigen Referenzzentrum untersucht wird, Influenzaviren nachgewiesen wurden. Da die Corona-Zahlen nach einer spürbaren Welle wieder stark rückläufig sind, übernehmen nun andere Erreger das Zepter. Für die beiden letzten Wochen 2023 wurden dem Institut knapp 9000 Fälle übermittelt. Festgestellt wurden vor allem A(H1N1)pdm09-Viren, die während der voreilig ausgerufenen Schweinegrippe-Pandemie 2009 erstmals aufgetreten waren.

Betroffen sind laut RKI derzeit vor allem Kinder im Schulalter und junge Erwachsene. Auch bei der Grippe macht sich also ein Nachholeffekt bemerkbar, weil Heranwachsende während der Corona-Maßnahmen kaum Erreger abbekommen hatten. In den Krankenhäusern merkt man wenig davon, denn bei der Influenza ist es ähnlich wie bei Covid: Gefährlich sind die Viren für alte Menschen und solche mit bestimmten Vorerkrankungen. Daher ähneln sich auch die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) bei diesen Erregern.

Wobei es hier um sehr unterschiedliche Vakzine geht: Anders als die mRNA-Covid-Impfstoffe werden seit Jahrzehnten gegen die Grippe abgetötete Viren gespritzt, die in rund einer halben Milliarde Hühnereier weltweit angezüchtet werden. Experten der Weltgesundheitsorganisation entscheiden für die Nordhalbkugel jeweils im Frühjahr auf Grundlage der vorherigen Saison im Süden über die Zusammensetzung der Vakzine – meist mit drei oder vier Stämmen der beiden Influenza-Haupttypen A und B. »Das Virus verändert seine Struktur häufiger, sodass jährliche Anpassungen erforderlich sind«, sagt Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsklinik Mainz. Die Wirksamkeit liege meist eher in der Größenordnung von 40 Prozent. »Bei ungünstiger Zusammensetzung wurden auch nur 10 bis 15 Prozent Wirksamkeit beobachtet.«

Da es im Winter auf der Südhalbkugel in Australien zu einer heftigen Saison besonders bei Kindern gekommen war, rechnen einige Experten mit einer »starken Grippewelle« auch hierzulande. Michael Hubmann, Präsident des Kinder- und Jugendärzteverbands BVKJ, forderte jetzt sogar entgegen der Stiko-Empfehlung eine Grippe-Impfung für alle Kleinen. Auch gesunde Kinder seien sehr oft Überträger der Viren, sagte er der Funke-Mediengruppe. Ziel müsse sein, die Ausbreitung des Virus durch Impfung zu verhindern und damit die Krankheitslast für alle zu mindern.

Dies hat nun eine Debatte unter Fachleuten entfacht, wie sie auch während der Corona-Zeit geführt wurde. Sollen Kinder und Jugendliche, für die das medizinisch kaum einen Nutzen bringt, zum Wohle der Alten geimpft werden? »Ich denke schon, dass man in diesem Jahr Kinder (und natürlich auch Erwachsene) großzügig impfen sollte«, sagt Folke Brinkmann, Leiterin der Pädiatrischen Pneumologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Der individuelle und gesellschaftliche Nutzen sei vermutlich in dieser Saison höher als in vorherigen Jahren. »Ob das für eine Stiko-Empfehlung ›ausreicht‹, ist immer schwer zu beurteilen.« Brinkmann wirft noch die Erfahrungen des vergangenen Winters in die Waagschale, als eine heftige RSV-Welle viele Kinderkliniken in einen Ausnahmezustand versetzte. Allerdings sind diese Viren besonders für Kleinkinder gefährlich.

Steht die Pneumologin ambivalent zum Vorstoß des Verbandschefs, hält Kindermediziner Zepp nichts davon: »Die meist niedrige Wirksamkeit der Influenza-Impfung bei Kindern zum Beispiel im Vergleich zur Pneumokokken-Impfung ist für die Etablierung eines allgemeinen Impfprogramms unbefriedigend«, erläutert Zepp, der auch Mitglied der Stiko ist. Auch deshalb werde die Impfung aktuell nur für Kinder mit chronischen Grunderkrankungen empfohlen, wirbt er für die Stiko-Position. Kinder zu impfen, um Erwachsene und Großeltern zu schützen, hält er daher für »kein gutes Argument für eine medizinische Intervention«. Zumal gerade gefährdete ältere Menschen die Möglichkeit hätten, sich durch Impfung selbst gegen Influenza zu schützen.

Das Problem liegt also anderswo: in der Impfzurückhaltung der Risikogruppen. Im Jahr 2022 ließen sich gerade noch 43 Prozent der über 60-Jährigen gegen Influenza impfen – ein Jahr zuvor waren es noch vier Punkte mehr. Die politisierte Debatte über Impfpflicht und vermeintliche Gefahren der mRNA-Impfstoffe dürfte die Skepsis noch vergrößert haben.

In der Berliner Arztpraxis, in der das Interesse an Influenza-Entdeckung nicht allzu ausgeprägt ist, wirbt man immerhin für den Piks: Wer sich gegen Grippe und gegen Covid impfen lassen will, »kann jederzeit vorbeikommen – auch ohne Termin«.

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