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Dieser Ort soll schöner werden

»Schnall dich an, es geht los« von Domenico Müllensiefen ist ein Roman über und gegen Depression und Faschisierung in Ostdeutschland

Als die Welt in der Altmark wieder einmal kleiner wurde: letzte Fahrt auf der Bahnlinie Oebisfelde-Salzwedel, 2002
Als die Welt in der Altmark wieder einmal kleiner wurde: letzte Fahrt auf der Bahnlinie Oebisfelde-Salzwedel, 2002

Stellen Sie sich vor, in Ihrem Ort gibt es keinen Bahnhof mehr. Und auch keinen Blumenladen, keinen Fleischer, keine Schule, keine Bankfiliale und auch keinen Arzt. So wie in Ziegenrück im Vogtland,Thüringen, Deutschlands fünftkleinster Stadt. 615 Einwohner und die Hälfte von ihnen wählt AfD, wie vor der Landtagswahl in einer Reportage in der »Zeit« zu lesen war. Nach der Wahl hat sich dort nichts geändert: AfD bei 51,2 Prozent und die SPD bei 1,9 Prozent. Die Linke bekam 9,2 Prozent. Bodo Ramelow hat in dieser Ecke übrigens sein Ferienhaus. Schöne Landschaft, depressive Stimmung.

»Pascal wollte viel, bekommen hatte er auch viel: viel weniger«, sagt der Ich-Erzähler Marcel über seinen besten Freund in Domenico Müllensiefens neuem Roman »Schnall dich an, es geht los«. Pascal trinkt viel Alkohol und bewegt sich wenig, »das Amt bezahlte Wohnung und Bier« in einer Gegend, die »jeden Dampf und Saft verloren hatte«. Marcel geht auf die 40 zu und arbeitet in einer Dönerbude in Jeetzenbeck, einem fiktiven Örtchen in der Altmark, wo man zum Döner »Drehspieß« sagt. Dort scheint noch weniger los zu sein als im realen Ziegenrück.

Wahljahr Ost

Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.

Absurderweise befindet sich im Dorfteich ein Stein, der als »Mittelpunkt der Welt« bezeichnet wird, weil der Legende nach von hier einmal die Welt vermessen wurde. Man könnte aber Müllensiefens Roman ganz real dafür benutzen, um das in vielen ostdeutschen Gegenden vorherrschende Gefühl des Abgemeldetseins, der Frustration und der Faschisierung zu durchdenken. »Schnall dich an, es geht los« ist sehr aktuelle Gegenwartsliteratur.

Marcel ist wie in einer Zeitschleife gefangen. Vor 20 Jahren verließ Steffi, seine erste und einzige große Liebe, ihn und den Ort. Vor 20 Jahren fuhr sich seine jüngere Schwester absichtlich zu Tode. Vor 20 Jahren hat er zum letzten Mal seinen Vater gesehen, bevor er ins Gefängnis kam. Marcel berichtet von ihnen in Rückblenden, Geschichten wie aus einem Jugendbuch der Post-DDR. »Unsere Berufe waren: Koch, Maurer, Elektriker, Mechaniker und Arbeitsloser«, fasst Marcel den Werdegang seiner ehemaligen Mitschüler zusammen. »Aber irgendwie wurde unsere Welt immer kleiner, und das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau, Abbau Ost.«

Das Symbol des Abgemeldetseins ist das Ende der »Amerikalinie«. Früher konnte man von Jeetzenbeck mit der Bahn in die nächste Kleinstadt fahren und von dort zu den Nordseehäfen, Richtung Übersee. Doch die Deutsche Bahn hat das sukzessive stillgelegt. Das ist nicht erfunden, die »Amerikalinie« stammt aus dem Kaiserreich. Reste dieser Strecke gibt es noch, sie sollen laut der Bahn irgendwann einmal überholt werden, wann weiß niemand.

Deshalb lautet die Kernfrage des Romans: »Was passiert eigentlich mit Orten, die von der Gesellschaft und vom Staat verlassen werden?«, sagt Domenico Müllensiefen im Gespräch. »Was passiert, wenn der Staat sich mit seiner allerletzten Instanz, die er noch hat, und das ist die Eisenbahn, aus dem Ort zurückzieht?«

Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren und zog mit neun Jahren in ein Dorf in der Altmark, das so ähnlich ist wie Jeetzenbeck. Allerdings zog er mit 16 wieder zurück nach Magdeburg. In der Altmark wohnte sein Großvater. Um ihr Haus herum war Acker, er hatte ein Blickfeld von zwei, drei Kilometern bis zum Wald. Die ewigen Weiten der Provinz – so ist er groß geworden, war dann aber auch froh, »als ich wieder nach Magdeburg kam, wo dann die sozialen Karten nochmal neu gemischt wurden«.

Wie sie in Leipzig nach 1989 gemischt wurden, hat er in »Aus unseren Feuern«, seinem Debütroman von 2022, erzählt. Dieser handelt von drei Hauptschülern, die sich ihre Zeit mit selbstgebastelten Bomben vertreiben, während ihre Elternhäuser zerfallen (Kurzfassung). Der eine wird Sprengmeister und geht in die USA, der andere Schlachter und dann Reichsbürger und der Erzähler erst Elektriker und dann – sehr symbolisch – Bestatter.

In »Schnall dich an, es geht los« arbeiten die meisten in Jeetzenbeck als Bauern. Aber sie wissen, dass ihr Dorf langsam, aber sicher ausstirbt. Es gibt konstant weniger Kinder und mehr Alte. Und es gibt Dirk, den Vater von Pascal. Er würde sich gerne »Historiker-Schulz« nennen, heißt aber im Dorf nur »Nazi-Schulz«, denn er handelt im »Importgeschäft« mit illegalen Nazi-Devotionalien und Waffen und begreift sich als »ein Korrektiv gegen den ideologischen Blödsinn, den wir hier seit Jahren erleben«, sagt er. Dirk neigt zur Belehrung und war schon immer Nazi, und er wurde es schon in der DDR, weil er diesen Staat hasste. Genauso wie nun den Westen. Doch er wirkt nicht unfreundlich, erscheint als eine Art Kümmerer-Nazi, der Marcel ein bisschen hilft. Ebenso dessen Mutter, die oft weltabgewandt vor dem Fernseher sitzt und »Columbo«-Folgen auf Video schaut. Und er hilft auch Steffi, als sie nach 20 Jahren wieder auftaucht. Ihr Vater ist Kubaner und betreibt die Dönerbude, in der Marcel arbeitet, ihre Mutter ist Marcels einstige Lehrerin. Als Jugendliche fragte Steffi einmal Dirk, ob er sie denn zusammen mit den »kriminellen Ausländern« rauswerfen wollte. Nein, antwortete der, warum denn? Sie sei doch »eine von uns«. Ja, ja, ja, nichts gegen Ausländer oder andere, aber, aber, aber – die klassische Antwort aus dem Reich der Ressentiments und der Rechten.

Müllensiefen erzählt, wie ihm als Jugendlicher in der Altmark, die traditionell als CDU-Land gilt, Nazis begegnet sind, »die komplett offen und ohne jeglichen Widerspruch ihren Scheiß machen konnten«. Sie zeigten Nazi-Devotionalien aus dem Kofferraum und liefen bei Dorffesten in Nazikleidung herum, ohne dass es jemanden gestört hätte. Und wenn er mit einem Freund auf so einem Fest Pogo tanzte, dann kam ein Skin auf ihn zu und sagte einfach nur: »Macht das nicht!« Und sie gingen frustriert nach Hause.

Im Roman meint Marcel: »Jeetzenbeck war ruhig und still, hier konnte man nur laute und unruhige Menschen großziehen.« Dirk erzählt Marcel, wie er und seine Freunde Anfang der 80er in der Dorfdisco den Hitlergruß gezeigt hätten, wenn der westliche NDW-Hit »Ich will Spaß« von Markus lief. Immer dann, wenn dieser singt: »Deutschland, Deutschland, hörst du mich?« Dirk habe sich damals tatsächlich gefragt, ob Deutschland ihn denn höre.

Erst spät versteht Marcel, »dass Dirk nie ein Freund der Familie, sondern immer nur ein Arschloch gewesen war«, und verrät ihn an die Polizei. Und dass sein Vater, der immer das getan hat, was Dirk von ihm wollte, kein besserer Mensch werden wird, »eher ein schlimmerer«. Und noch später begreift man als Leser den Titel des Romans, der positiv gemeint ist.

Als Steffi wieder da ist, hat sie ihren Sohn mitgebracht, der sogar Fußballprofi beim 1. FC Magdeburg ist. Ist es der Sohn von Marcel? Das ist letztlich nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass sie dableiben und weder verrückt, noch depressiv werden. Dass man die von den Medien verstärkte Erzählung der Rechten, alles sei Katastrophe, nicht mitmacht und anfängt, besser mit sich und seiner Umgebung umzugehen. In Jeetzenbeck fangen sie klein an. Sie kümmern sich um das alte, verfallene Kulturzentrum. Das hat etwas Rührendes, aber auch Konstruktives. Freiwillig konstruktiv sein, ohne Befehl und Bevormundung, ist immer gut. Schon vorher hat Marcel bemerkt: »Wenn mein Leben hier wirklich so wäre, wie es im Fernsehen immer zu sehen ist, würde ich hier nicht leben wollen.«

Wie schon in seinem Debüt »Aus unseren Feuern« erzählt Müllensiefen in »Schnall dich an, es geht los« mit lakonischem Witz locker, pointiert und unterhaltsam. Wieder taucht er selbst in einer lächerlichen Nebenrolle als »Mülle« auf und auch das nachdrücklich pragmatische Handwerkerduo »Mike und Maik« darf nicht fehlen. Hinter dem Derben seiner Figuren lauert feine Ironie und in der bleiernen Ruhe dramaturgische Dynamik. Aus der öden, matten Provinz heraus entfaltet er so einen vielschichtigen Kontext, wie man es aus der RBB-Serie »Warten auf’n Bus« oder aus der Netflix-Serie »Dark« kennt. Anders als in den zeitgenössischen Ostromanen von Anne Rabe (sehr thesenschwer) oder Lukas Rietzschel (atmosphärisch sehr drückend) werden die schweren Themen (Krise, Gewalt, Enttäuschung) von Müllensiefen mit lässiger Leichtigkeit angegangen, so dass man vielleicht besser darüber nachdenken und reden kann.

Im Gespräch attestiert Müllensiefen der Gegend in der Altmark eine norddeutsche Freundlichkeit. Man sei schon ein bisschen verschlossen, aber immer noch herzlich. Er sagt mir, es gebe dort kein touristisches Angebot, aber: »Wenn Sie wirklich Ruhe suchen, wenn Sie nachts Sterne sehen wollen, wenn Sie auch mal in einem Funkloch leben wollen, dann ist die Altmark genau der richtige Ort.«

Domenico Müllensiefen: Schnall dich an, es geht los. Kanon-Verlag, 352 S., geb., 25 €.

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