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Dona nobis pacem

Ein bemerkenswerter Fund im Archiv des DDR-Fernsehens: Eine Diskussionsrunde am 9. November ’89

Die Französische Friedrichstadtkirche, Ort einer hitzigen Debatte am 9. November 1989
Die Französische Friedrichstadtkirche, Ort einer hitzigen Debatte am 9. November 1989

Geschichte kann ziemlich zynisch sein. Da diskutieren sich einige Hundert Menschen die Köpfe heiß, wie ein Land reformiert, wie man Sozialismus humaner, demokratischer, freundlicher gestalten könne, während zugleich etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt ein Mann recht unbedarft einen Satz stottert, der alles mit einem Mal obsolet werden lässt. In der Folge nicht nur ein ganzes Land wegzaubert, sondern auch die Welt umkrempelt.

Am 9. November 1989 treffen sich in der Französischen Friedrichstadtkirche am heutigen Gendarmenmarkt in Berlin Mitglieder der SED und der sogenannten Blockparteien mit Vertretern von Oppositionsgruppen und Kirchen, um über eine andere DDR zu diskutieren. Zustande gekommen ist dieses Treffen maßgeblich auf Initiative von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, der zwei Tage zuvor noch in Genf beim Weltrat der Kirchen den Vertretern des Globalen Südens versichert hatte, dass der Sozialismus in der DDR bleibe und weiterhin an deren Seite stehe.

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Die bemerkenswerte Veranstaltung am 9. November 1989 in Berlin ist aufgezeichnet worden. Über drei Dezennien schlummert das Material im Archiv des ehemaligen DDR-Fernsehens, bis es von Christian Walther entdeckt, geborgen und gesichtet wird. Der Journalist erkennt die Brisanz dieses authentischen Zeitzeugnisses, macht sich daran, die unbearbeiteten Filmmeter akribisch zu studieren, die Redner zu identifizieren. Was leichtfällt bei jenen, die später Karriere machten wie Stolpe als brandenburgischer Ministerpräsident oder Christine Lieberknecht als Ministerpräsidentin von Thüringen, Lothar de Maizière als Chef der letzten DDR-Regierung sowie Rainer Eppelmann, dessen Minister für Verteidigung. Andere hingegen sind hernach relativ rasch aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Für zwei Tage bekam Walther vom MDR einen Schneideraum zur Verfügung gestellt. Das Endprodukt, einen 45-minütigen Zusammenschnitt, stellte er dieser Tage an historischer Stätte vor, im Beisein von damaligen Teilnehmern. Bevor diese sich erinnern durften, hieß es in der Friedrichstadtkirche erst einmal: Film ab.

Auffallend ist, dass es bei dieser Zusammenkunft sehr gesittet, fast förmlich zuging; fast könnte es sich um einen Mini-CDU-Parteitag gehandelt haben – mit Gästen. Ganz anders damals beispielsweise die Atmosphäre in der vor allem von der Jugend bevölkerten, bis auf den letzten Quadratmeter Fußboden besetzten Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg, leidenschaftlich, fast anarchistisch. Hier aber gibt Stolpe erstmal den Fahrplan vor, bevor Gottfried Müller, Chefredakteur der Kirchenzeitung »Glaube und Heimat« und Initiator des Weimarer Briefes vom 10. September ’89, der eine Demokratisierung der CDU der DDR forderte, erklärt: »Was jahrelang auf dem Kopf stand, stellen wir jetzt auf die Füße.« Und: »Ich wünsche mir, zum 1. Mai die Führung zieht am Volk vorbei.« Horst Dohle vom Staatssekretariat für Kirchenfragen (»ein Kommunist besteigt die Kanzel«, so der Filmkommentar) gesteht Fehler der SED in der Kirchenpolitik ein, beharrt aber auch auf Erfolgen. Sein Stoßgebet an jenem Abend: »Ich wünsche jeden Kommunisten einen guten christlichen Freund und umgekehrt.«

Eppelmann empört sich, dass eine Partei für sich den Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt, und wünscht sich »ab sofort einen Streit der Konzeptionen«, ernsthaft und partnerschaftlich ausgetragen. Erhart Neubert, Theologe und Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, meint, man müsse nicht auf den »Begriff Sozialismus verzichten, sondern ihn mit neuem Inhalt füllen«. Benötigt werde »ein Runder Tisch, an dem wir alle gemeinsam, auch die alten Kräfte sitzen«. Lutz Hoyer von der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) fordert die Streichung des Artikels 1 der DDR-Verfassung, in der die »führende Rolle« der SED fixiert war. Jörg Hildebrandt, Lektor der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin, verliest den Aufruf zu einem Volksentscheid zur Streichung des Führungsanspruchs der SED. De Maizière wird schon als neuer CDU-Vorsitzender avisiert.

Konrad Weiß von Demokratie Jetzt wiederum ist »ganz schwindelig« angesichts vieler Wendehälse, die sich bis zu 360 Grad (!) drehen. Der Filmemacher kann sich vorstellen, dass für eine Übergangszeit »eine Frau wie Christa Wolf führende Repräsentantin unseres Landes ist«. Klaus Wolfram stellt das Neue Forum vor, das die einzige neue Vereinigung sei, die aus einer Volksbewegung hervorgegangen ist. Konrad Elmer, Mitbegründer der SDP, wiederum nennt Umbruchzeiten die spannendsten und schönsten. Aber: »Wir haben keine Zeit. Heute haben wieder Tausend unser Land verlassen.« Thomas Krüger, ebenfalls ein Gründungsmitglied der neuen ostdeutschen Sozialdemokratie und später Chef der Bundeszentrale für politische Bildung, ist großzügig: »Ich bin dafür, dass ein Saulus zum Paulus werden darf.« Aber auch ihn ängstigen die vielen Wendehälse. Und er wünscht sich, dass »die Blockparteien uns nicht mehr blockieren.« Christine Lieberknecht fordert Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz. Historiker Joachim Heise, der 1993 das Berliner Institut für Staat-Kirche-Forschung (BISKF) gründet, bekennt, der SED beigetreten zu sein, weil sie von Antifaschisten ins Leben gerufen worden ist.

Bei der Podiumsdiskussion nach der Filmvorführung klagt Elmer, dass »unsere westdeutschen Genossen sehr viel vorsichtiger als die West-CDU-Führung waren. Wenn schon im Januar 1990 die Wahlen zur Volkskammer gewesen wären, hätten wir die Nase vorne.« Marianne Birthler, damals Initiative Frieden und Menschenrechte, später Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR, kritisiert das lange Stillhalten der »Blockflöten«: »Die CDU durfte keinen Minister in der DDR stellen.« Werner Krätschell, 1989 Superintendent in Pankow und Moderator am Runden Tisch in Berlin, korrigiert: »Doch, Otto Nuschke, stellvertretender Ministerpräsident.«

Dass noch in dieser Nacht, am 9. November 1989, die Mauer fiel, hat keiner der Redner damals in der Friedrichstadtkirche mitbekommen. Christine Lieberknecht wurde nächtens am Bahnhof in Weimar von ihrem Mann mit den Worten empfangen: »Ich war mir nicht sicher, ob du überhaupt noch kommst.« Wieso? »Die Mauer ist doch offen.« Heise, der am 9. November Geburtstag hat, wurde zu Hause vom Nachbarn auf der Treppe mit einer Torte und der Überraschung begrüßt: »Die Mauer ist auf.« Dem Wissenschaftler schwant Unheil: »Jetzt bricht alles zusammen.« Für Krätschell schlußendlich war das Wichtigste an jenem 9. November ’89, dass die Menschen, ob Christen oder Nichtchristen, Oppositionelle oder Ordnungskräfte das Gebot »Dona nobis pacem« beherzigt haben. 

»Eine bessere DDR«, ARD-Mediathek

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