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- Ezzes von Estis
Mischa, der große Dichter (Teil II)
Alle warten mit Mischa – auf das erste Werk
Was wird das nur für ein großes Buch werden, wenn Mischa, der große Dichter, es erst geschrieben haben wird! Es wird sein ein lyrisches Drama über die Prosa des Lebens. »Wie würde es heißen, dein Buch?« »Es wird heißen ganz bescheiden und einfach ›Das Weltbuch‹.« Es wird enthalten alle Buchstaben des alef-bejs, es wird enthalten alle Wörter, die nötig sind, um alle Sätze zu bilden, die zu bilden sind, es wird enthalten sinnvolle Fragen und sinnlose Antworten, es wird enthalten lange Beschreibungen und kurze Wortwechsel, es wird enthalten simchedike lidelach un trojrige poemen.
Es wird makellos, es wird tadellos sein, weil es auch die Kritik an sich selbst schon enthalten wird und die Verteidigung gegen diese Kritik und sogar was alzwejßer Motel beim Lesen ausrufen wird, nämlich: »Nu, also ein Samuel Agnon ist er nicht…«
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Vielleicht ist er kein Agnon, aber ein großer Dichter ist er doch, also nicht nur Agnon, sondern auch Mischa. Darum darf sich Mischa nicht mit kleinlicher Schmiererei abgeben wie die anderen pen-chawerim, die tintler un kljakßer. Er versucht sich nicht in wertlosen Reimereien, er fabuliert keine Histörchen, er fabriziert keine Artikelchen, er produziert keine Schmonzetten, keine Schnulzen und kein Gesülze.
Nein, er ist voll und ganz, ganz und gar eingestellt auf das große Werk. Mischa wartet, ruhig, geduldig, er wartet und sitzt und er sitzt und er wartet. Er liest nicht, er summt nicht, er denkt und er zweifelt nicht, denn er weiß: Der rechte Moment wird kommen.
Wie heißt es?
Es heißt: »Alles hat seine Zeit; seine Zeit hat jedes Ding unter dem Himmel.« Aber heißt es nicht auch: »Wann, wenn nicht jetzt?« Emmes, das ist wahr, so heißt es, aber man kann es auch so lesen: »Irgendwann, wenn nicht jetzt!« Das kommt ganz auf die Intonation an und die Interpunktion und die Transliteration und die Phonation. »Nein, das tut es nicht«, sagt Motel, aber ihm hört keiner zu, weil er ein alzwejßer ist, ein solcher alzwejßer, dass keiner auf ihn hören will. Keiner will auf ihn hören und keiner will von ihm hören und deshalb soll er nicht einmal in dieser Geschichte mehr vorkommen.
Mischa aber ist zwar kein alzwejßer, aber er weiß eines, nämlich dass er bestimmt ist für das große Werk. Das sagt ihm nicht irgendwer, sondern sein Gefühl. Und dieses Gefühl sagt ihm manchmal sogar, er sei zum Schreiben von Gott auserwählt. Dann wieder sagt ihm dasselbe Gefühl, er solle nicht übertreiben. Und so begnügt er sich damit, zu wissen: Es liegt alles in Gottes Hand, auch die rechte Zeit für sein großes Werk. Also wartet Mischa, geduldig, ruhig, wartet und sitzt und sitzt und wartet.
Eines Tages nun war die Zeit gekommen. Doch Mischa saß trotzdem da und wartete. Die Zeit, die gekommen war, ging aber nicht vorüber, sondern blieb. Und zusätzlich zur Zeit kam auch noch Gottes Stimme vom Himmel herab und sprach zu Mischa: »Schreib!« – weil die Zeit ja gekommen war. Da erschrak Mischa natürlich und wollte schreiben. Aber als er schreiben wollte, da erschrak er noch mehr, weil er erkannte, dass, wenn er etwas schriebe, es nicht kleiner werden durfte als so groß, wie es dem großen Werk eines großen Dichters eben anstand, und dass es nicht nur groß werden musste, sondern auch noch jetzt. Deshalb erschrak Mischa und erkannte, dass er lieber gar nichts schreiben wollte, als etwas zu schreiben, was nicht groß genug wäre, womit es also seiner Größe nicht entspräche. In dieser Erkenntnis lag Mischas Größe, und gerade deshalb ist Mischa ein großer Dichter, auch wenn er nichts schreibt.
Aber wenn er etwas geschrieben hätte, oj, was wäre das bloß für ein Buch geworden!
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