Die Freiheit muss draußen bleiben

Formen der Selbstentmächtigung: Mit zwei Romanen erinnert die Friedenauer Presse an die italienische Schriftstellerin Maria Messina

  • Magnus Klaue
  • Lesedauer: 6 Min.
Palermo kann sehr eng sein – bis heute.
Palermo kann sehr eng sein – bis heute.

In Italien hat die literarische Moderne eine Ausprägung gefunden, die mit keinem anderen europäischen Land vergleichbar ist. Hier gingen Avantgardismus, Kosmopolitismus und die Begeisterung für Urbanität im frühen 20. Jahrhundert eine Verbindung mit Regionalität und lokaler Tradition ein, aus der eine ebenso welthaltige wie spröde Prosa entsprang, die mit den Bezeichnungen Realismus oder Naturalismus nur unzureichend getroffen wird.

Auch der Gegensatz zwischen Großstadt und Provinz hat sich nicht in gleicher Weise ausgeprägt wie im übrigen Europa. So wenig die Arbeiterbewegung in Italien alleinige Sache des Industrieproletariats war, so innig war Modernität an spezifische Lokalität, an in Landschaften, Gebäuden, Plätzen und Idiomen kristallisierte geografische Erfahrungen gebunden. Wie dieser Regionalismus in der italienischen Literatur nach 1945 tradiert und produktiv gemacht wurde, hat Maike Albath 2010 in ihrer Studie »Der Geist von Turin« anhand von Cesare Pavese, Natalia Ginzburg und der Geschichte des 1933 gegründeten Einaudi-Verlags gezeigt.

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Ein früheres Zeugnis solcher Verbindung von Regionalismus und Moderne sind zwei kurze Romane oder lange Erzählungen – die Schwierigkeit der Gattungszuordnung ist bezeichnend – von Maria Messina, die von der Friedenauer Presse, die mittlerweile zum Matthes & Seitz-Verlag gehört, vorgelegt werden. Eine Neuübersetzung des 1921 veröffentlichten Bandes »Das Haus in der Gasse« und die Erstübersetzung von Messinas 1923 erschienenem Buch »Eine Blume ohne Blüte«. In beiden Büchern stehen Protagonistinnen im Mittelpunkt, die Messinas eigene, zwischen lebensweltlicher Enge und intellektueller Weite, Isolation und Weltläufigkeit changierende Situation reflektieren, ohne deshalb zum Genre der Autofiktion zu gehören.

Die Schriftstellerin wurde 1887 in Palermo geboren. Messinas Mutter stammte aus einer verarmten Adelsfamilie, ihr Vater war Schullehrer und durch vielfache Versetzungen gezwungen, mit seiner Familie immer wieder umzuziehen. Vermittelt über die Mutter erfuhr sie früh die Vorzüge literarischer Bildung, doch weil der Vater ihr den Schulbesuch verbot und sie nur selten alleine ausgehen ließ, war sie bis zu ihrer Volljährigkeit in häusliche Isolation gezwungen und wurde nur durch ihren fünf Jahre älteren Bruder in ihrem Interesse für Literatur unterstützt.

1909 begann Messina einen Austausch mit Giovanni Verga, dem bedeutendsten Vertreter des Verismus, der italienischen Form des Naturalismus. Im gleichen Jahr erschien ein erstes Buch mit Erzählungen unter dem Titel »Feine Kämme«, zwei Jahre später der Prosaband »Kleine Rinnsale«. Von 1912 an schrieb sie Bücher für Kinder und Jugendliche – eine Karrieremöglichkeit für weibliche Autoren im frühen 20. Jahrhundert –, durch die sie bekannter wurde als durch die von ihr höher eingeschätzten Romane. Deren charakteristische Züge skizziert Christiane Pöhlmann, die beide Bände herausgegeben hat, in ihren Nachworten. Besonders hebt sie den schon in den Titeln der Erzählungsbände anklingenden Zug zum Kleinen, Filigranen, zur Verknappung und Aussparung hervor, der Messinas Prosa auch, wenn sie zur Romanform tendiert, den Charakter von Miniaturen verleiht. Darin unterscheide sich Messinas Verismus nicht nur von den Großromanen des naturalistischen Übervaters Émile Zola. Es mache Messina auch unbrauchbar als Ikone eines Feminismus, der nach »Kronzeuginnen« für sein Anliegen suche. Sie starb 1944 in Pestoia, Toskana, an Multiple Sklerose.

Die Lakonie, die Pöhlmann als Auszeichnung von Messinas Texten ansieht, kennzeichnet auch die Übersetzungen der Kurzromane. In beiden Büchern steht im doppelten Sinn ein Haushalt, eine Gemeinschaft familiär und freundschaftlich, durch Zuneigung, Verachtung, Neid und Sexualität, intim verbundener Menschen im Mittelpunkt, denen der Ort, an dem sie es miteinander aushalten müssen, zur Falle wird. »Das Haus in der Gasse« konzentriert sich auf Antonietta, ihren Mann Don Lucio Carmine, einen Pächter, an den sie durch eine arrangierte Heirat gebunden ist, sowie ihre jüngere Schwester Nicolina.

In »Eine Blume ohne Blüte« geht es um die junge Franca, die nach dem Tod ihrer Mutter bei einer Tante lebt, und ihr widersprüchliches Verhältnis zu ihrem Vater, dessen Großzügigkeit allein dem Zweck dient, sie in Abhängigkeit zu halten. Gemeinsam mit ihrer Freundinnenclique übt Franca in der annähernden Abweisung von Jungs und Männern die weibliche Emanzipation ein, die sie in der Wirklichkeit nicht vollziehen kann. Der junge Stefano, in den sie sich verliebt, erlaubt ihr scheinbar, sich von der Tyrannei des Vaters zu befreien, unterscheidet sich in seinem Herrschaftsanspruch aber letztlich nicht von ihm.

Wie Franca resigniert zu ihrer Tante zurückkehrt, weil sie in der familiären weiblichen Gemeinschaft mehr Freiheiten hat als gegenüber Männern, so führt auch »Das Haus in der Gasse« im beharrlichen Einander-Ausschließen der Protagonisten eine Welt vor, die trotz realer Freiheitsangebote wie ein hermetischer Innenraum erscheint. Hier erweist sich die geschwisterliche Beziehung zwischen Antonietta und Nicolina, die Antonietta zunächst als Ausweg aus dem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Mann erscheint, als dessen Verschärfung, weil Nicolina aus Passivität und Eifersucht auf das scheinbar sichere Eheleben ihrer Schwester zum Geliebten des Schwagers wird.

Beide Bücher sind eingerahmt durch Szenen der Ausschließung und Selbstvermauerung. »Eine Blume ohne Blüte« beginnt mit dem Satz »Stefano reichte es«, in dem die Beziehung, die Franca später temporär als Weg ins Freie erscheint, angesichts der Schranken, die Franca von ihm trennen, antizipierend für beendet erklärt wird. »Das Haus in der Gasse« fängt mit einer Szene an, in der Nicolina ihren Blick vom Balkon schweifen lässt, ihn aber als »eingeengt, wie erdrückt zwischen dem zu dieser Stunde tief und düster wie ein leerer Brunnen wirkenden Gässchen und der weiten Fläche rötlicher und bemooster Dächer« empfindet.

Die oft nur eine halbe Seite langen Szenen, in die Messina die Handlung zersplittern lässt, unterscheiden sich von Fragmenten dadurch, dass sie in der Zersplitterung nicht mehr auf ein uneinholbares Ganzes deuten, das über die Erfahrung des Eingeschlossen- und Ausgesperrtseins hinausweist. Die Gesellschaft, die Messina beschreibt, ist nicht unfrei – marxistische Klassenanalyse ist der Autorin fern –, aber die Freiheiten, die sie erlaubt, beruhen auf einer Selbstentmächtigung, die von den weiblichen Protagonisten ebenso stärker erlitten wie reflektiert wird als von den Männern. Darin, dass sie nicht nur leiden, sondern auch über dieses Leiden und den eigenen Anteil daran nachdenken, ohne dass ihre Lage sich dadurch bessern würde, weisen Messinas Frauen auf die in den Filmen Michelangelo Antonionis voraus, an dessen wie hermetische Innenräume wirkende menschen- und seelenlosen Außenwelten beide Romane erinnern.

Maria Messina: Das Haus in der Gasse. Aus dem Italienischen von Ute Lipka. Durchgesehen und mit einem Nachwort von Christiane Pöhlmann. Friedenauer Presse, 216 S., geb., 22 €. Maria Messina: Eine Blume ohne Blüte. Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Christiane Pöhlmann. Friedenauer Presse, 184 S., geb. 22 €.

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