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Daten-Goldgrube wird erschlossen

Auch in der Krebsheilkunde kann Künstliche Intelligenz in vielen Bereichen hilfreich sein

Eine Mammografie soll bei der Früherkennung von Brustkrebs helfen. In Zukunft könnten dazu weniger Frauen eingeladen werden.
Eine Mammografie soll bei der Früherkennung von Brustkrebs helfen. In Zukunft könnten dazu weniger Frauen eingeladen werden.

Krebs in allen seinen Varianten ist lange nicht besiegt. Weltweit nehmen die Fallzahlen absehbar zu, ebenso in Deutschland. Hierzulande wird bis 2040 mit etwa einer halben Million Neuerkrankungen pro Jahr gerechnet, zudem mit 225 000 Krebstodesfällen jährlich. Der Zuwachs lässt sich teils damit erklären, dass Alter der stärkste Risikofaktor für Krebs ist – und der Anteil der Älteren wächst. Hinzu kommen Lebensstilfaktoren wie schlechte Ernährung und zu wenig Bewegung, und Umweltfaktoren.

Angesichts der Dimension des Problems liegt es nahe, in der Krebsbekämpfung alle möglichen Stellschrauben zu erkennen und zu bewegen. Das beginnt bei der Prävention und geht über die Früherkennung bis zu passenden Therapien. Bei allen Themen kann Künstliche Intelligenz (KI) helfen. Der Grund: Es geht immer um große Datenmengen. So sind die Tumoren äußerst verschieden, ebenso ihre Träger, die Menschen. Diagnostische Daten umfassen Zellprofile, Genomdaten, Röntgen-, Sonografie- und MRT-Bildaufnahmen samt Auswertung und auch Aufzeichnungen über den Verlauf von Therapien. All diese Informationen erhält die KI zum Beispiel für eine Krebsart und soll dann darin Muster erkennen – zum Beispiel für die beste Therapie oder auch, wann bestimmte Therapien nicht geeignet sind.

»Bei der Früherkennung von Brustkrebs wird nach der Nadel im Heuhaufen gesucht.«

Moritz Gerstung 
Deutsches Krebsforschungszentrum

Mustererkennung ist ein wesentlicher Teil dessen, was KI heute leisten kann. Zum Zuge kommen KI-Modelle bereits im Bereich der Prävention. Die Fragen lauten: Wer hat ein erhöhtes Risiko für eine Krebserkrankung? Oder wie wird sich die Zahl der Neuerkrankungen entwickeln, wenn man bisherige Bedingungen fortschreibt?

Mit einem derartigen Projekt beschäftigt sich Moritz Gerstung, Physiker und Abteilungsleiter für Künstliche Intelligenz in der Onkologie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Gerstung berichtete darüber in einer DKFZ-Veranstaltung im Januar. Bislang gilt auch ohne KI als sicher, dass das allgemeine Lebensrisiko für eine Krebserkrankung bei 50 Prozent liegt. Der große Teil der Diagnosen wird ab dem 60. Lebensjahr gestellt. Der allgemeine, unausweichliche Alterungsprozess spielt sich auch in den Genen ab – und Krebs kann als genetische Krankheit verstanden werden. Laut Gerstung wird durch eine »unglückliche« Kombination von genetischen Veränderungen in einer einzelnen Zelle die Erkrankung ausgelöst. »Diese eine Zelle verhält sich dann anders als die übrigen Zellen, beginnt zu wachsen und sich auszubreiten.« Nach bisherigem Kenntnisstand ist hier »viel Zufall« im Spiel, so der Forscher.

Darin besteht auch eines der Probleme für Früherkennung und Prävention, denn das Ergebnis wird häufig erst Jahrzehnte später sichtbar. Andererseits ist eine frühe Intervention möglich, und die frühe Erkennung etwa eines Tumors ist wesentlich für Heilungschancen. Alternativ bleibt nur eine graduelle Lebensverlängerung als Behandlungsziel.

Als relativ gesichert gilt in der Früherkennung die Mammografie der weiblichen Brust, die von den Kassen für Frauen zwischen 50 und 69 Jahren übernommen wird. Nur leider ist auch diese Methode mittels Röntgenaufnahmen nicht perfekt, wie Gerstung einschränkt. Denn nur acht von 1000 eingeladenen Frauen ab 50 Jahren haben tatsächlich Brustkrebs: »Hier wird also nach einer Nadel im Heuhafen gesucht«. Bei 24 von 1000 Frauen ergeben sich falsch-positive Diagnosen – bei genaueren Untersuchungen stellt sich dann heraus, dass sie keinen Krebs haben. Und bei zwei Frauen in einer solchen Gruppe ist die Diagnose falsch-negativ: Der Krebs wird übersehen. Aufgabe sei es nun, durch gezieltere Einladungen eine höhere Treffsicherheit zu erreichen. Das entlaste Patientinnen und würde zudem Kosten reduzieren.

Wie gehen Datenwissenschaftler an eine solche Aufgabe heran? Für eine Art »Vorsortierung« der Personengruppen können sie dänische Gesundheitsdaten verwenden. In skandinavischen Staaten ist die Sammlung von Daten der gesamten Bevölkerung schon länger akzeptierte Tradition. In Dänemark sind etwa Informationen zu 6,7 Millionen Menschen erfasst, denen 60 Millionen Krankenhausfälle, 90 Millionen Diagnosen und fast 450 000 Krebsfälle (für 20 Krebsarten) zugeordnet sind. Schon das sei ein regelrechter »Goldschatz«, findet Gerstung. Zusätzlich können diese Daten mit dem Personenregister abgeglichen werden: »So lassen sich Verwandtschaftsverhältnisse rekonstruieren«, erklärt der Physiker.

Lässt sich nun das Risiko auf dieser Datenbasis in Bezug auf die 20 Krebsarten besser eingrenzen? Gefunden wurden fünf Gruppen mit unterschiedlich hohem persönlichen Krebsrisiko. Aufschlussreich ist auch, dass bestimmte andere Krankheitsdiagnosen mit Krebs assoziiert sind, andererseits auch Lebensstilfaktoren wie schädlicher Tabak- und Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel. Genetische Ursachen wie die für bestimmte Formen von Brust- und Eierstockkrebs treten familiär gehäuft auf. Aus den Ergebnissen, die teils schon vorher geahnt oder auch mit geringerer Sicherheit bekannt waren, lassen sich Vorsorgeansätze entwickeln.

Das am DKFZ entwickelte KI-Modell wurde Delphi genannt. Trainiert wurde es nicht nur mit den Daten von zwei Millionen Menschen aus dänischen Registern zu 1256 Krankheitsdiagnosen. Es kamen auch noch Informationen zu Krankheitsverläufen von 500 000 Personen aus einer britischen Datenbank hinzu. Für jede der erwähnten Diagnosen sind im Ergebnis Vorhersagen möglich, die über die Altersabhängigkeit hinausgehen. Jede sechste Erkrankung ist vorhersagbar, jede achte war es bisher allein aufgrund des Alterungsprozesses. Damit ist das Modell schon 15 Prozent genauer als die allgemeine Vorhersage, es ist laut Gerstung auch »deutlich besser als konkurrierende Modelle«.

Das hilft bei der Entscheidung, welche Personen mit welchen Merkmalen zur Früherkennung eingeladen werden. Und viel weiter gefasst: Etwa bei absehbar höheren Bevölkerungsanteilen mit Übergewicht lässt sich erkennen, wie viel häufiger bestimmte Krankheiten folgen und welche Versorgungskosten dafür einzuplanen sind. Andererseits ließe sich nach wirksamen Präventionsmechanismen suchen, etwa für gesündere Ernährung. Effekte von Werbeverboten oder veränderten Steuersätzen auf Süßgetränke sollten in ihrer Wirkung ebenso erfassbar sein. Für neue Behandlungsmethoden wie die sogenannten Abnehmspritzen räumt Gerstung ein, dass sich Zusammenhänge dramatisch ändern könnten.

Noch handelt es sich aber nur um eine wissenschaftliche Machbarkeitsstudie, schränkt der Wissenschaftler ein. Über Großbritannien und Dänemark hinaus müsste sie systematisch überprüft werden, in Deutschland zum Beispiel mit Routinedaten der Krankenkassen, die Krankheitsverläufe über Jahre und Jahrzehnte abbilden. Ergänzend nötig wären klinische Studien, die genauer bestimmen sollten, wann sich welche Medikamente lohnen. Weitere Anwendungsbereiche für KI in der Medizin wären etwa die Überwachung von Verläufen bei chronischen Krankheiten oder die roboterassistierte Chirurgie.

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