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Zeitschrift »Das Argument«: Marx durch Marxismen erweitern
»Das Argument« hat einen neuen Herausgeber: Lukas Meisner spricht im Interview darüber, was es bedeutet, heutzutage eine Theoriezeitschrift zu machen
»›Das Argument‹ ist im Angebot«, erklärte Herausgeber Wolfgang Fritz Haug vergangenes Jahr im Gespräch mit »nd« und warb damit um eine Nachfolge. Das Angebot haben Sie angenommen. Wie ist es dazu gekommen?
Geplant war es nicht. Es passierte im Mai 2024 auf der Tagung des Berliner Instituts für kritische Theorie. Nach dem Abendessen sind Wolfgang und ich an der Havel spazieren gegangen und ich meinte: »›Das Argument‹ ist die wichtigste marxistische wissenschaftliche Zeitschrift in Deutschland, sie darf nicht sterben, das kannst du nicht zulassen.« Woraufhin er nur lakonisch sagte, aber mit Verve: »Das stimmt. Aber dann musst du es machen!« Ich glaube, dass er neben meinem Schreiben, über das wir uns schon eine Weile austauschten, positiv fand, dass ich einerseits zwischen Wissenschaft und Literatur und andererseits zwischen Ost und West stehe. Meine Eltern sind aus der DDR, ich bin in der BRD groß geworden. Diese Doppelsozialisation ist hilfreich für einen pluralen Marxismus.
Sie sind Schriftsteller und Philosoph. Was sind ihre intellektuellen Einflüsse und wie harmonieren diese mit der Tradition des pluralen Marxismus in »Das Argument«?
Die Wege zum Marxismus in einer Zeit, die von Postmoderne und Neoliberalismus geprägt war, sind keine direkten gewesen, auch bei mir nicht. Nicht zuletzt, da ich kein Akademikerkind bin. Ich musste mich erst mal durch die Abstrusitäten des Philosophenhabitus, des literaturwissenschaftlichen Neusprechs, der bürgerlichen Soziologie schlagen. Letzten Endes habe ich meine Promotion zur kritischen Theorie geschrieben.
Diese hatte den Marxismus um Methoden der Totalitätsanalyse und der Ideologiekritik zu Zeiten der Faschisierung erweitert, was ich gerade heute für theoretisch wie realpolitisch relevant halte; »Das Argument« stellt sich in diese Tradition. Aber die Kritische Theorie wurde im Lauf der Jahre domestiziert, sie ist abgekommen von ihrem revolutionären Startpunkt. Trotzdem halte ich ihre Arbeiten – besonders aus den 30er Jahren oder die von Herbert Marcuse nach dem Zweiten Weltkrieg – für entscheidend für die marxistische Weiterentwicklung.
Ein anderer Hintergrund, den ich mit »Das Argument« teile, ist der plurale Marxismus, der auch den leninistischen oder den sowjetischen Marxismus einbezieht, den chinesischen nicht zu vergessen. Diese Öffnung in Richtung Osten und Süden ist in der Frankfurter Schule sehr unter die Räder gekommen, anders als in »Das Argument«. Wolfgang hat mal gesagt, wir müssen ökumenisch denken, analog dazu, wie das Christentum lernen musste, verschiedene Konfessionen zu verbinden und miteinander in Dialog zu bringen. Diverse Marxismen müssen heutzutage miteinander sprechen, der westliche Marxismus reicht nicht aus, schon weil er nicht hinreichend internationalistisch denkt und zu fern von sozialistischer Politik bleibt.
Lukas Meisner ist Schriftsteller, Soziologe und Philosoph. Seit 2025 ist er Herausgeber der Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften »Das Argument«.
Ist der plurale Marxismus ein gefestigtes Konstrukt, eine eigene Denkschule?
Pluraler – ausdrücklich nicht pluralistischer – Marxismus bedeutet, dass man den Marxismus öffnet, aber nicht für liberale Theorie, sondern für die enorme Pluralität, die die Marxismen seit 150 Jahren international entwickeln. Marx muss durch Marxismen erweitert beziehungsweise vertieft werden, etwa in Hinblick auf feministische, antikolonialistische, ökologische Fragen, aber neue Marxismen oder Post-Marxismen müssen mittels Marx daran erinnert werden, dass Begriffe wie Arbeiterinnenklasse oder Kommunismus so wenig antiquiert sind wie allgemein die Kritik der politischen Ökonomie.
Bleiben Sie der bisherigen Linie von »Das Argument« treu? Welche Neuerungen wird es geben?
Man kann sich darauf verlassen, dass »Das Argument« eine gegenhegemoniale, pluralmarxistische, kritisch-wissenschaftliche Zeitschrift bleibt. Neu wird sein, dass wir uns um zwei bis drei Generationen verjüngen. Wir haben viele Leute dabei, die politisch organisiert sind. Es ist wichtig, dass man diesen Faden nicht abreißen lässt. Wir werden zudem »Calls« pro Ausgabe ausschreiben, nicht zuletzt, um bekannter zu werden in den jüngeren Generationen, auch unter derzeitigen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlerinnen, in sozialen Bewegungen, linken Parteien.
Eine weitere Neuerung ist, dass wir einen größeren Anteil des literarischen Genres haben wollen. Das schließt ans bisherige »Argument« an. Es gibt zum Beispiel die Rubriken »Nachrichten aus dem Patriarchat« und die »Analysen der Gegenwart«. Das sind essayistischere Formen, deren informelleren Ton wir umso mehr brauchen in der Epoche von Tiktok und Co. Der Klassenkampf ist gegenhegemonial an verschiedenen Fronten auszutragen und dazu gehört nicht zuletzt die Kunst. Zu den Besonderheiten von »Das Argument« gehörte Frigga Haugs Gründung der »autonomen Frauenredaktion«. Unsere neue Redaktion ist mehrheitlich mit Frauen beziehungsweise Flinta* besetzt, denn wir wollen, dass wir immer mehrheitlich eine »Frauenredaktion« sind. Das wird sich in künftigen Schwerpunktsetzungen spiegeln.
Eine Verjüngung der Redaktion bringt frischen Wind, aber stellt Sie auch vor Herausforderungen, oder?
Die ältere Generation wird vertreten bleiben im Rezensionsteil, und auch an ihre Unangepasstheit schließen wir uns an. Das Herausfordernde wird in der Tat sein, dass es personell eine gewisse Zäsur gibt. Dennoch haben wir die inhaltlichen und methodologischen Überschneidungspunkte, um auf den großen Schultern, auf denen wir stehen, aufbauen zu können.
Über verschiedene Generationen hinweg zu kommunizieren, daran fehlt es der Linken generell. Eine Kontinuität im »Argument« von Anbeginn war die Friedensfrage, der Antimilitarismus. Das ist heutzutage wichtiger denn je. Die ältere Generation vertritt den damit einhergehenden Antiimperialismus noch viel deutlicher. Die neuere Generation ist hier oft ganz anders sozialisiert, teilweise ideologisiert, was problematisiert werden muss; andererseits hat sie Sensibilitäten, die einzubeziehen sind. Insgesamt brauchen wir eine Linke, die intergenerational in der Lage ist, miteinander zu diskutieren, von der Frage diskriminierungskritischer Sprache bis zu der nach globaler Abrüstung.
Wann ist mit der ersten Veröffentlichung zu rechnen und welche Themen sind zu erwarten?
Das Heft kommt Ende des Jahres, Arbeitstitel: »35 Jahre Westdeutsche Einheit«. Es geht um den hochaktuellen Nexus von Antikommunismus, Neoliberalismus und Neofaschisierung. Im Gemenge der 35-Jahr-Feiern, vergangenes Jahr des Mauerfalls und dieses Jahr der Deutschen Einheit, wollen wir ein Dorn im schönfärbenden bürgerlichen Auge Westdeutschlands sein. Denn Deutschland ist heutzutage Westdeutschland. Nicht umsonst hat sich »Das Argument« Anfang der 90er Jahre nur in Kondolenzfarbe veröffentlicht. Denn der Kollaps des real existierenden Sozialismus ist für Marxist*innen kein Grund zum undifferenzierten Feiern.
Das Thema westdeutsche Einheit ist insofern kein Provinzialismus. Die vergangenen 35 Jahre waren global geprägt durch die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus, der sich zunehmend autoritär gewendet hat. Wir im »Argument« erkennen eine Kontinuität zwischen dem grundsätzlichen Antikommunismus, der in jeder Form von Alternative zum Kapitalismus den sogenannten Totalitarismus wittert, einem Neoliberalismus, der den kapitalistischen Realismus in seine DNA programmiert hat, und einer Faschisierung, die sich nach vielen Jahren Sozialstaatsabbau jetzt auch – nach außen und innen – militarisiert.
Das wird immer extremer, und es betrifft auch das politische Zentrum: Es kann keinen Faschismus geben, wenn nicht die bürgerliche Mitte auch einknickt. Das war schon Anfang der 30er der Fall; und die bürgerliche Mitte knickt auch heutzutage ein. Wir haben das bereits in der Ampel-Regierung gesehen und in der EU-Politik, von GEAS [Gemeinsames Europäisches Asylsystem] bis Zeitenwende. Plötzlich war es ein völlig normaler Slogan, dass wir in größerem Stil abschieben müssen, dass für die FDP ein guter Wille auch Grenzen setzen muss – oder dass Deutschland wieder eine Großmacht sein solle.
Wir müssen daran erinnern, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden will, auch vom Faschismus zu schweigen hat. Das heißt wir müssen die Systemfrage stellen, wenn wir Antifaschistinnen sein wollen. Die Brandmauer gäbe es nur als sozialistische Alternative. In diesem Sinn soll das erste neue Heft gelesen werden.
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»Das Argument« ist 1959 an der Freien Universität Berlin aus einer von Ulrike Meinhof herausgegebenen Flugblattreihe entstanden. Politisch war es eine dynamische Zeit, die Zeitschrift wurde ein wichtiges Organ der 68er-Studierendenbewegung. Eine solche Bewegung ist zurzeit nicht in Sicht, aber der Rechtsruck bringt doch enorme Menschenmengen auf die Straßen. Was bedeutet es für eine Theoriezeitschrift dieser Tage, praktisch relevant zu sein?
Es bedeutet, dass wir angstlos sein müssen. Wir erleben eine Diffamierung linker Grundhaltungen, wir werden Gegenwind erfahren. Es ist aber auch klar, dass gerade wir Linke klassische bürgerliche Werte verteidigen müssen wie Presse- oder Versammlungsfreiheit, wann immer die Bürgerlichen ihre eigenen Ideale mit Füßen treten. Wir dürfen dabei keine Angst haben, nicht mit der Hegemonie zu schwimmen, sondern haben gegenhegemonial einzugreifen auf der Höhe der Zeit. So hat es »Das Argument« immer getan, ohne sich einer Strömung oder linken Sektiererei unterzuordnen. Es ist der Versuch, das Ganze im Blick zu behalten und emanzipatorisch-marxistisch voranzuschreiten. Im Marxismus kann man keine Theorie fernab der Praxis machen. Andersherum benötigen gegenhegemoniale Aktivierungen eine starke theoretische Klärung. Unser Wunsch ist, dass wir in Zukunft wieder von linken Parteien und Linksaktivist*innen zu Rate gezogen werden.
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