»Extinction«: Luft wie Champagner

Trümmer der alten Gesellschaft: Der Theaterregisseur Julien Gosselin begibt sich mit »Extinction« in die Tiefen der österreichischen Literatur

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Gosselin bannt die Dekadenz in netflixreife Bewegtbilder.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Gosselin bannt die Dekadenz in netflixreife Bewegtbilder.

Ein vielfältiges Spektrum neuer Theaterproduktionen, musikalischer Kompositionen oder Multimedia-Installationen macht es sich zur Aufgabe, die Stadt und ihre Bewohner*innen mit positiver, progressiver Energie aufzuladen.» So verspricht es Christophe Slagmuylder, der in diesem Jahr letztmals als Intendant für das Programm der Wiener Festwochen verantwortlich zeichnet, ehe ihm Milo Rau nachfolgen wird. Mit der Einladung der Theaterarbeit «Extinction» des französischen Regisseurs Julien Gosselin hat der belgische Kulturmanager sicher für einen der Höhepunkte des internationalen Festivals gesorgt. Dass die fünfstündige Inszenierung, deren Titel Bezug auf Thomas Bernhards Roman «Auslöschung» nimmt, mit einem besonderen Maß an positiver Energie aufwartet, mag man aber kaum glauben.

Gosselin, 1987 geboren, ist eigentlich ausgebildeter Schauspieler, gründete mit 22 sein eigenes Theaterkollektiv und wechselte bald ins Regiefach. Durch groß angelegte Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer Literatur, gefeierte Bühnenadaptionen von Michel Houellebecqs «Elementarteilchen» und Roberto Bolaños «2666» zählen dazu, hat er von sich reden gemacht. Im vergangenen Jahr verlegte Gosselin seinen Schwerpunkt auf Literaturhistorisches. Den Auftakt machte er mit «Sturm und Drang – Geschichte der Deutschen Literatur I», einem Repertoirestück für die Berliner Volksbühne, in der er durch die Beschäftigung mit den Klassikern von Goethe bis Mann assoziationsreich dem deutschen Wesen beizukommen suchte.

«Extinction», das Anfang des Monats in Montpellier uraufgeführt wurde, zu den Wiener Festwochen eingeladen wurde und im September die neue Spielzeit an der Volksbühne eröffnen wird, bedeutet nun den weiten Sprung ins 20. Jahrhundert und von Weimar nach Wien. Ins dortige Museumsquarier wurde geladen, wo sich das Publikum nach Einlass sichtlich irritiert zeigt. Elektronische Musik wird aufgelegt. Einige Zuschauer verteilen sich vor dem DJ-Set, die meisten suchen ordnungsgemäß ihre Sitzplätze auf. Ist man hier auch wirklich bei der angekündigten Theatervorstellung gelandet? Oder handelt es sich um das vom Intendanten angekündigte «vielfältige Spektrum musikalischer Kompositionen» oder gar um eine «Multimedia-Installation»?

Nein, hier ist kein Fehler unterlaufen. Wir befinden uns in Rom, Juni 1983, wie uns eine Projektion auf einer Leinwand wissen lässt, auf der auch die Performance der zwei Live-DJs gezeigt wird. Offenbar sind wir hier mit Franz-Josef Murau gelandet, Bernhards Held aus «Auslöschung». Aber ist das nicht ein ganz und gar gegenwärtiger Rave? Eher Wien oder Berlin 2023? Vielleicht. Ein Teil des Publikums ist wenig geneigt, sich auf derlei Gedankenspiele einzulassen und flieht. Andere wechseln munter zwischen Bühne und Zuschauerraum, sind mal Teil der entspannt feiernden Menge, mal deren Beobachter. Club-Lautstärke wird allerdings nicht aufgefahren. Alles bleibt im publikumsverträglichen Rahmen. Und schon fragt man sich, wer hier eigentlich mehr Spaß hat, die Tanzenden da unten oder die Glotzenden hier oben. Um Fremdschäm-Mitmachtheater handelt es sich hier allerdings keineswegs, eher schon um ein durchaus aufschlussreiches Experiment über die Trennung von Zuschauern und Darstellern und über deren Aufhebung.

Zum Ende dieses ersten Teils des als Triptychon angelegten Theaterabends fängt eine Live-Kamera inmitten der Feiernden die Schauspielerin Rosa Lembeck ein, die hier unter ihrem realen Vornamen den Murau gibt. Nachricht aus Wolfenegg für sie gebe es, so erfährt sie. Sie will davon nichts wissen. Hier beginnt der Einbruch der österreichischen Literatur ins Hier und Jetzt – und das Publikum wird nach einer Dreiviertelstunde, ausreichend verdutzt, in die Pause entlassen.

Nach 30-minütiger Unterbrechung ist die Bühne nicht wiederzuerkennen. Links erhalten wir Einblick in ein Schlaf-, rechts in ein Badezimmer. Dazwischen Türen und Fenster, die mehr verbergen, als dass sie Einsicht gewähren würden. Was sich dahinter zuträgt, verrät uns die Leinwand. Hätten uns abermals projizierte Zwischentitel – «Wien, Österreich / Juni 1913» – nicht auf den Zeitsprung hingewiesen, wir hätten es des zeittypischen Dekors wegen erahnt.

In diese merkwürdig ferne, aber im Wiener Stadtbild noch präsente Zeit siedelt Gosselin sein Spiel zwischen völliger Weltverneinung und dekadentem Lebensstil, heraufziehendem Kriegsgewitter und florierender Kunst an. Der Sinnverlust ist die zentrale Erfahrung der Moderne. Der zweite Teil der Inszenierung entpuppt sich als fein komponierte und fast zweieinhalb Stunden dauernde Montage verschiedener literarischer Vorlagen.

Wir treffen auf Albertine und Fridolin mit ihrem unverhofft gewecktem sexuellem Begehren, das uns aus Arthur Schnitzlers «Traumnovelle» bekannt ist. Gosselin erzählt im deutsch-französischen Sprach-Hin-und-Her nicht nach, sondern verflicht die Szenen geschickt mit anderen Stoffen. «Fräulein Else» und «Komödie der Verführung», gleichsam von Schnitzler, fließen in die Inszenierung ein. Das Personal der Texte trifft unerwartet aufeinander. Schnitzler begegnet uns hier ganz als der literarische «Doppelgänger» seines Zeitgenossen Sigmund Freud, als den dieser ihn gesehen hat. Der für die Realität blinde Mensch im Vorkrieg ist pathologisch, so erscheint es uns. Die Luft ist hier, wie es im Stück heißt, wie Champagner. Daran ändert auch die sich anbahnende Katastrophe nichts. Gespickt wird das mit Hugo von Hofmannsthals «Chandos-Brief», jener großen Abrechnung mit der «Unkunst» der Zeit. So wie Bernhards «Auslöschung» mit dem Tod beginnt, kann auch der Blick auf die Wiener Moderne nur mit Leichen anfangen und enden.

Waren in «Sturm und Drang» noch die Anleihen bei Regiemeister Frank Castorf sichtbar, gleichwohl Gosselins Versuch vor einem Jahr weit weniger verfing, erinnert das versierte Spiel vor der Live-Kamera in «Extinction» eher an einen Umgang mit Video auf der Bühne, wie ihn Katie Mitchell pflegt. Der junge französische Theatermacher überzeugt nicht nur durch seinen Zugriff auf die Wiener Moderne, sondern weiß sich auch filmisch Ausdruck zu verschaffen. Das Publikum ist bald im netflixgleichen Sog und darf munter Zitate aus der Filmgeschichte erkennen.

Das Schnitzler-Potpourri stellt sich als Spiel im Spiel heraus, ein Lehrstück in Sachen fehlgeleiteter Lebensführung. Lauter lächerliche Menschen der Vergangenheit. Rosa alias Murau begegnet uns erneut und weiß nichts anzufangen mit derlei Scheußlichkeiten.

Ihren großen Auftritt hat sie in einem wirklich großen Monolog in Teil drei. Die Zuschauer dürfen sich abermals auf der Bühne einfinden. Der Nihilismus von vor hundert Jahren, die Lust am Weltuntergang sind passé. Der Vernichtungseifer, der uns nun vorgestellt wird, ist gänzlich anders geartet. Mit Bernhard predigt uns Lembeck die Auslöschung, aber nur um sie als Voraussetzung für den notwendigen Neuanfang zu begreifen. Eine Stunde lang umkreist sie das eigene Leben, die eigene Familiengeschichte, um von der österreichischen Seele Auskunft zu geben.

Wieder Wolfenegg. Im fernen Rom erfährt Rosa vom Tod von Eltern und Bruder. Es ist Anlass für ein Resümee. Die Geschichte der eigenen Verwandten ist auch die Geschichte des fortwährenden Ungeistes in Österreich. Der Faschismus, vor, während und nach dem «Anschluss» an das Deutsche Reich, ist sein Symptom. Es bleibt nur die Auslöschung als einzige Hoffnung.

Es ist ein kühner Einfall Gosselins, der Vorkriegsdekadenz einen humanistischen Vernichtungswillen gegenüberzustellen. Ob aus dem stupide-technoiden Hedonismus der Jetztzeit ein Bruch mit den Verhältnissen erwachsen kann, lässt der Regisseur offen. Im Programmheft heißt es, er suche in Nihilismus und Zerstörung «nach den Spuren einer verschütteten Revolte und der Möglichkeit, das Projekt der Moderne neu zu erfinden». Möglicherweise verbirgt sich in diesem düsteren Abend mehr «positive Energie», als man zu ahnen glaubt.

Berliner Premiere: 7. September
Weitere Vorstellungen: 9., 10. und 14. September
www.volksbuehne.berlin

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