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Weh, ach wehe, mein Kind!
Kann das Kino auch Gesamtkunstwerk? Die Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit »Tristan und Isolde« – live im Lichtspielhaus betrachtet
Plötzlich fährt es mir in den Kopf: »O weh! Ach! Ach, des Übels, das ich geahnt!« So schlimm? Was ist geschehen? Keine Sorge, mir geht es gut. Es ist ein schöner sonniger Julitag. Gerade habe ich mir in Berlin-Wilmersdorf noch das große Stück einer köstlichen Aprikosentarte zugeführt, nun stehe ich vor einem ehemaligen Tanzlokal aus den 20er Jahren des letzten Zentenniums, das heute ein Kino beherbergt, und freue mich, dass ich in der heimatlichen Hauptstadt bin und nicht im fränkischen Hinterland.
Aprikosentarte? Kino? Franken? Wovon die Rede geht? Es ist der 25. Juli und heute werden die Bayreuther Festspiele mit der Premiere des neu inszenierten Wagner’schen Musikdramas »Tristan und Isolde« in der Regie des isländischen Theaterkünstlers Thorleifur Örn Arnarsson eröffnet. Ich pilgere allerdings nicht zum Grünen Hügel, sondern nehme vorlieb mit einer Live-Übertragung des Spektakels in Bild und Ton.
Anders als im Festspielhaus kann ich im klimatisierten Kino nämlich in letzter Minute vor Vorstellungsbeginn noch einen halben Liter kühlen Biers erwerben (schönen Dank an die Augustiner-Bräu Wagner KG!), den ich sogar mit in den Zuschauersaal nehmen darf. Auf halber Strecke dorthin wird mir ein Glas Sekt gereicht – als kleiner Gruß für die Gäste dieses Sonderprogramms. Mit Bier und Sekt bepackt, gehe ich zu meinem bequemen Platz und ahne, dass mir dergleichen (war es beim neuen »Fliegenden Holländer« von 2021?) schon einmal unterlaufen ist.
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Richard Wagners »Tristan«, diese fast 160 Jahre alte »Handlung in drei Aufzügen« also. Blick nach vorn auf die Leinwand, 300 Kilometer von hier entfernt öffnet sich der schwere Vorhang, tief aus dem Graben bringt das Orchester seine Instrumente zum Klingen (Musikalische Leitung: Semyon Bychkov) und in Bayreuth wie in Berlin sieht man ins bühnenvernebelte Nichts. Noch für die Dauer des berühmten Vorspiels werden die Publikumsnerven geschont.
Es ist ein merkwürdiges Liebesdrama, das sich zwischen diesen beiden Titelfiguren ereignet. Das ganze Hin und Her, Mord und Trauer, Verzweiflung und Versteckspiel begegnen uns nicht szenisch – sie sind ins Musikalische verlegt oder müssen uns von den Darstellern singend nacherzählt werden. Das große Drama, es findet fast ganz und gar innerlich statt. Da braucht es schon den beherzten Zugriff eines Regisseurs, um das Publikum nicht nur akustisch, sondern auch visuell einzunehmen.
Thorleifur Örn Arnarsson packt oft die großen Stoffe an: »Die Edda«, »Die Odyssee«, »Die Orestie«. Aber bekommt er sie auch zu greifen? Der »Tristan« jedenfalls geht ihm durch die Lappen.
Als sich der Nebel im ersten Aufzug lichtet, schält sich Isolde (Camilla Nylund) aus dem übergroßen unteren Rock ihres weißen Kleides. Sie wird noch den gesamten Bühnenabend immer wieder zu dem Stoff zurückkehren und daran herumnesteln. Mitunter liegt er vor ihr wie eine endlos lange Schleppe. Das passt zu dieser dreifach verhinderten Braut, der von ihrem Verlobten Fürst Morold nur der Kopf bleibt, abgeschlagen durch Tristans Hand; die sich auf den Weg nach Cornwall zu König Marke befindet, dem sie als Friedenspfand zur Frau gegeben werden soll und dem sie sich zu entziehen verstehen wird; die sich bald schon, nach Induktion der richtigen Substanzen, in Tristan verlieben wird, mit dem sie aber dann auch erst durch ihren Liebestod vereint sein soll.
Isolde also ruht in Stoff gehüllt im Schiff. Taue sind über die Bühne (Vytautas Narbutas) gespannt, umgeben ist das flüchtige Geschehen durch tiefes Schwarz. Man blickt, so will man glauben, in die Weite des Meeres. Die Sänger aber scheinen unangeleitet durch den Bühnenraum zu gehen, spielen mal in den leeren Raum hinein, mal wie in der Kammeroper aneinander klebend.
Bald schon singt Brangäne (Ekaterina Gubanova), die in ein graues Businesskostüm gekleidetete Vertraute Isoldes, die Verse – ja, da ist es wieder! – »O weh! Ach! Ach, des Übels, das ich geahnt!«. Und mit schmerzverzerrtem Gesicht beginne ich unweigerlich zu nicken. Hätte ich es denn nicht ahnen können? Arnarsson mangelt es an einer Idee für Bayreuth und plötzlich riecht es stark nach Theaterbiedermeier um mich herum.
Aber ist das nicht ohnehin klar? Ist Wagner nicht einzig für Erzreaktionäre und sein Festspielhaus die ewige Trutzburg des Konservativen? Hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth nicht wahr gesprochen, als sie einforderte, die Festspiele müssten »vielfältiger, bunter, jünger« werden, etwa vermittels Spielplanerweiterung? Moment, Moment, Moment! So einfach ist es ganz und gar nicht. Dem Reaktionären im Schaffen Wagners darf man durchaus künstlerisch begegnen. In den letzten Jahrzehnten ist das gelegentlich auch in Bayreuth geschehen. Das Festspielhaus ist zunächst keine Last, sondern ein kulturelles Erbe, das – ja, sicher! – bespielt sein will.
Und, in allem Ernst, wenn Claudia Roth sich einer Sache so sicher ist, dann sind Zweifel meist mehr als angebracht. »Vielfältiger, bunter, jünger« ruft sich schnell. Aber Phrasen helfen nicht weiter hinterm Grünen Hügel. Und weiterhelfen wobei eigentlich? In diesem Jahr sind die Festspiele wieder ausverkauft. Der größte Witz war allerdings die Idee der vermessenen Ex-Dramaturgin Roth, man könne den Bayreuther Spielplan durch Engelbert Humperdincks »Hänsel und Gretel« erweitern, entgegen der dortigen Gepflogenheit, ausschließlich Werke Wagners zu geben. Die Herzen ungezählter Jugendlicher werden wohl höher geschlagen haben, als sie diese Forderung vernommen haben. Die kultivierten Knaben und Mädel werden alsbald ihr Pferd satteln und gen Oberfranken reiten, weiß doch ein jeder: Humperdinck, das ist der neue heiße Scheiß, über den man auf dem Schulhof bei der E-Zigarette labert.
Zurück ins Kino. Der erste Aufzug dauert an, der fulminante Tenor Andreas Schager, der den Tristan gibt, betritt die Szene. Aber auch er kann das Bühnengeschehen nur streckenweise beleben. Isolde in ihrer Gefühlsnot will Rache an Tristan, will auch das Ende ihres eigenen Lebens, zückt ein Fläschchen mit dem Todestrunk, der sich, so etwas soll verkommen, als Liebestrunk entpuppt. Nun wird noch – nur Mut zum Kitsch – ein zärtliches Bild gefunden und der Vorhang fällt zum ersten Mal.
Während die Bühne im ersten Aufzug eine ungeheuere Weite behauptete, befinden wir uns im zweiten Aufzug in der klaustrophobischen Enge eines Schiffsbauchs, der mit Sperrgut aller Art überfüllt ist: Gemälde, ein Globus und ein Spiegel, Zahnräder und Statuen, ausgestopfte Tiere sowie ein Skelett. Ziemlich unaufgeräumt an Markes Hof. Hier spielen die beiden Titelfiguren ihr geheimes Liebesspiel. Wenn davon die Rede sein kann. Denn Erotik entwickelt sich bei dem verschämten Bühnengeschehen nicht, und man ist froh für jede Note der Musik, der man stattdessen seine Aufmerksamkeit schenken kann. Als das ungeschickt versteckte Einverständnis von Tristan und Isolde auffliegt, ist Marke außer sich und sein getreuer Diener Melot greift zum Schwert gegen Tristan.
Was nun im letzten Aufzug inszenatorisch folgt – »O weh! Ach!« –, ist die zwingende Konsequenz dessen, was bisher zu sehen war. Der Nippes von zuvor wird wie zur Sperrmüllabholung aufgehäuft. Mittendrin erklingt Gesang, aber das Spiel bleibt ohne Fokus. Tristan, schwer verwundet, hält aus, bis er in Isoldens Armen sterben kann. König Marke tritt auf, den beiden Liebenden seinen Segen zu geben. Zu spät. Nun bleibt auch Isolde nur, in den Tod zu gehen.
Doch was Arnarsson daraus szenisch macht – diese Choreografie der ausgebreiteten Arme, das gekünstelte Berühren der Wange des Geliebten! –, stammt aus der Mottenkiste der Schauspielkunst im Musiktheater. Eine Idee für diesen Stoff oder auch nur eine Haltung dazu vermisst man. Das zuvor kolportierte Konzept, diese Inszenierung setze sich mit Geschlechterrollen auseinander, findet auf der Bühne keine Umsetzung.
Meine Begleitung zu meiner Rechten, ein routinierter Theatergänger, der die Längen der darstellenden Kunst nicht fürchtet, ist mehr als einmal eingedöst. Auch das verrät, wie gestrig und bieder diese Arbeit ist. Die Sängerinnen und Sänger wie auch der Dirigent, stellvertretend für sein Orchester, werden mit Jubel bedacht. Das Regieteam erntet deutlich vernehmbare Buhs. Der Gedanke, dass das an einem zu konservativen Publikum gelegen haben könnte, scheint absurd.
Die Bayreuther Festspiele enden am 27. August.
www.bayreuther-festspiele.de
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