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»Die Straße ist bei mir immer noch im Kopf«
Elf Jahre ohne Obdach prägen Dominik Bloh bis heute. Wie genau, das beschreibt er in seinem zweiten Buch
Lockige Haare, dunkler Vollbart, schwarze Augen, dazu lässige Kleidung und weiße Sneakers. Klare Stimme und authentisches Lachen. Offen und herzlich im Umgang. Das ist Dominik Bloh, 37 Jahre, aus Hamburg. Bestsellerautor, Sozialunternehmer, Politikberater. Dass er elf lange Jahre obdachlos war und auf Hamburgs Straßen verbrachte, ist auf den ersten Blick kaum mehr vorstellbar.
Er aber kann die Zeit nicht ausblenden. »Die Straße ist bei mir immer noch im Kopf.« Im Sprechgesang gebe es einen Spruch, der ihn geprägt habe: »Den Jungen bekommst du von der Straße, aber die Straße nicht aus dem Jungen.«
Bloh wuchs zusammen mit seiner Mutter in Hamburg-Barmbek auf. Er hatte sein eigenes Zimmer in einer Mietwohnung. Die Beziehung zur Mutter war zwar angespannt, aber nicht schlecht, erzählt er. Doch seine »Mum« sei seelisch schwer krank gewesen. War mit sich und ihm überfordert. Eines Abends Mitte der Nuller-Jahre kam sie in sein Zimmer und verkündetet ihm, dass er die Wohnung verlassen muss – sofort, dauerhaft und endgültig. »Sie warf mich raus«, berichtet Dominik mit tiefer, fester Stimme. Ein Schock. Dominik war damals zarte 16 Jahre alt, ging aufs Wirtschaftsgymnasium.
»So stand ich also mir nichts, dir nichts auf der Straße; es war nass, kalt und schneite«, sagt Bloh. »Ich klingelte bei einem Freund, der mich aber nicht reinließ.« So ein »vermeintlicher Freund also«, schiebt er nach. Er schlief in seiner ersten Nacht draußen unter dem Dach einer Bushaltestelle und fror. Mit dabei zwei größere Taschen und ein Rollkoffer. Und ein Schreibblock. »Das war es«, erinnert er sich.
Fortan lebte er auf den rauen Straßen der Hansestadt, mit krassen Typen und jeder Menge Angst. Hunger wurde sein täglicher Begleiter. Und das als schulpflichtiger Jugendlicher. Elf Jahre sollte er obdachlos bleiben, elf wertvolle Jahre seines Lebens, seiner Jugend.
»Die Schule hat mir kaum geholfen, obwohl viele Lehrer wussten, dass ich ohne Obdach leben muss.«
Dominik Bloh
Autor und ehemaliger Obdachloser
Sauer auf die Mutter? »Nein, bin ich nicht«, sagt Bloh verständnisvoll, der auch heute – nach der Straße – keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Wütend sei er auf die Behörden und die Schule, und enttäuscht von ihnen. »Die Schule hat mir kaum geholfen, obwohl viele Lehrer wussten, dass ich ohne Obdach leben muss. Selbst meinem sogenannten Vertrauenslehrer war die Sache zu viel.« Und die Behörden und Jugendämter – von denen will er gar nicht erst reden: »Organisierte Nichtzuständigkeit.«
Morgens bis mittags stand Schule an; Schwänzen kam ihm nicht in den Sinn. Aus ganz praktischen Gründen. »Die Schule ist ein warmer und sicherer Ort für den Jungen von der Straße.« Hier konnte er zur Toilette gehen, sich frisch machen, die Zähne nach der Nacht draußen putzen und entspannt sitzen. Die Schule war noch mehr für ihn: »Hier wurde ich auch wertgeschätzt.« Denn: »Auf der Straße fühlst du dich wie Dreck.« Sein Hab und Gut hatte er währenddessen wohl bei Schulkameraden gelassen, wo er auch oft zum Mittagessen eingeladen worden wurde, was ihm aber peinlich war. »Ich wollte nicht von Almosen leben.«
Abends – auch, weil Bloh kaum Anlaufstellen hatte und kannte – ging es von Ort zu Ort, oft quer durch Hamburg und die Region. Die einzige Konstante war das permanente Licht der Straßenlaternen. »Ich fuhr viel Bus und Bahn, schrieb dabei meine Gedanken auf einen Schreibblock.« In der Nacht diente McDonalds als Refugium, wenigstens für einige Stunden. »Aber Einschlafen darfst du nie am Tisch, sonst wirst du rausgeworfen von der Security.« Hier wärmte er sich gern auf, konnte aufs Klo und in Ruhe die »Hamburger Morgenpost« lesen. Überhaupt ist Bloh durch die Zeit auf der Straße ein fast schon manischer Zeitungsleser geworden.
Dass er Abitur auf der Platte unter Straßenlaternen zwischen Bahnhof, Fischmarkt, Reeperbahn, St. Pauli und Davidstraße machte, fasziniert viele; für ihn ist all das nur eine Randnotiz. »Die Leute sollen mich lieber fragen, wie ich elf Jahre auf der Straße überlebte«, sagt er. »Ich dachte mit Anfang 20, ich werde nicht einmal 30.«
Damit diejenigen, die das raue Leben auf der Straße nicht kennen, endlich verstehen, was es heißt, auf der Straße zu leben – und freilich auch für seine Memoiren –, hat Dominik Bloh vor gut sieben Jahren das Buch »Unter Palmen aus Stahl« geschrieben. Es wurde ein Bestseller. Den Verleger lernte der schreibwütige und meinungsfreudige Bloh noch auf der Straße kennen; »sende mal einige Ideen und erste Kapitel deiner Story rein«, habe er ihn aufgefordert.
»Unter Palmen aus Stahl« sollte eigentlich »Unter gelben Lichtern aus Stahl« heißen, den Titel hat aber der Verlag geändert. Darin liest man anschaulich und eindringlich – klare Formulierungen sind eine Stärke von Dominik Bloh – das harte Schicksal eines jungen obdachlosen Menschen. Und wie er es selbst von der Straße in eine Wohnung geschafft hat. Blohs Glück war der Ex-Fußballprofi Bobby Dekeyser, der ihm ein Jahr lang die Miete in seiner ersten Bleibe finanzierte – ohne Bedingungen zu stellen. »Das war mein persönliches Housing-First«, erklärt Bloh und wirbt damit für den Ansatz, erst ein mal die Menschen von der Straße zu bekommen. Denn nur so gehe es, Obdachlosigkeit nachhaltig zu beenden. Das ist schließlich das erklärte Ziel der Bundesregierung bis 2030. Dafür gibt es eigens einen »nationalen Aktionsplan«. Zur Einordnung: Aktuell sollen knapp 600 000 Menschen in der reichen Bundesrepublik obdachlos sein, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Etwa 50 000 leben demnach ganz ohne Unterkunft auf der Straße.
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Der frühere Obdachlose hat sich mittlerweile ein »bürgerliches Leben« aufgebaut, obwohl der »Kapitalismus- sowie Konsum- und Leistungsgesellschaftskritiker« Bloh diese Terminologie der Bürgerlichkeit missbilligen dürfte. Er ist inzwischen Vater eines Sohnes, geschätzter Gesprächspartner und Experte. Bloh verabscheut »den« Kapitalismus zwar nicht. Sieht aber dringenden Reformbedarf und hält mehr Reichenbesteuerung und Umverteilung für notwendig. Dafür setzt er sich ein und deshalb will er Anfang März in die Hamburger Bürgerschaft gewählt werden. Nicht etwa für Die Linke, sondern für die Grünen.
»Es muss sich endlich etwas ändern, damit wir der Gerechtigkeit ein wenig näher kommen«, sagt Bloh. Seine Worte klingen nach. Der Eindruck entsteht, dass hier wirklich jemand ist, der es ernst meint; vielleicht, weil er einmal ganz unten gewesen war.
Er hat auch schon Taten folgen lassen. Vor knapp fünf Jahren hat er über seine gemeinnützige Organisation Gobanyo Deutschlands ersten Duschbus ins Rollen gebracht. Natürlich in Hamburg. Ziel ist es, Obdachlosen oder Bedürftigen die Möglichkeit zu geben, sich an einem mobilen Ort zu pflegen. Denn Körperhygiene und ein Leben auf der Straße müssen einander nicht ausschließen. »Für mich war auch auf der Straße Körperpflege immer wichtig«, sagt er ernst. »Waschen ist Würde.« Das steht auch auf dem Duschbus. Für sein Engagement wurde ihm 2022 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Im Oktober 2024 erschien das zweite Buch von Dominik Bloh. Der Titel: »Die Straße im Kopf«. Darin möchte er zeigen, dass sein Leben auch nach acht Jahren immer noch von der Straße geprägt ist. Sein Umgang mit Geld und Konsumgütern etwa: »Ich hatte lange Zeit kein Geld, daher finde ich es nun cool zu sparen. Sparen zu können.« Oder sein Innenleben: »Mit Gedanken bin ich oft noch auf der Straße, bei den anderen Obdachlosen. Wieso hatte ich solch ein Glück, von der Platte zu kommen?« Aber auch in alltäglichen Gewohnheiten hat sich die Zeit der Wohnungslosigkeit eingeschrieben: »In meiner Küche war jahrelang nur ein Glas, kein Messer, Gabel oder Löffel oder Teller. Auch hatte ich nur ein T-Shirt und kein Handtuch im Badezimmer, obwohl ich natürlich Geld zum Leben hatte.«
Ein wirkliches Zuhause zu finden, das war eine schwierige Suche für den einstigen Obdachlosen. Heute sagt er: »Zu Hause ist, wo mein Sohn ist und wo ich bin.« Er ist angekommen. In der bürgerlichen Gesellschaft. In Hamburg. In der Kreativ- und Kulturszene. Bald soll es einen Film über ihn geben. Selbstredend über sein Thema, die Straße.
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