Die Linke: Silberlockeneinsatzkommando

Sie haben einen Plan: Mit der Mission Silberlocke landet ein Linke-Seniorentrio einen Erfolg in den Medien und bei jungen Wählern

Drei Originale mit Pappkameraden: Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Dietmar Bartsch bestreiten den ungewöhnlichsten Wahlkampf ihres Lebens.
Drei Originale mit Pappkameraden: Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Dietmar Bartsch bestreiten den ungewöhnlichsten Wahlkampf ihres Lebens.

Gysi kommt aus Berlin, er war an einer Schule eingeladen, danach hat er auf einem Ärztekongress gesprochen. Bartsch war am Vormittag in Zwickau, Ramelow erst in Weimar, dann in Chemnitz. Jetzt, am Nachmittag, treffen sie sich in Leipzig. »Kampf dem Faschismus! Leipzig bleibt rot!«, steht in riesigen Buchstaben auf einem Banner an der Fassade des Ringcafés. Gegenüber, an der Mensa der Universität, ruft das Studentenwerk auf einem Transparent auf: »Geht wählen!« Viele Studenten haben das tatsächlich vor, wie sich zeigen wird.

Die Silberlocken kommen, das hört sich nach einer alternden Schlagerband an, aber es handelt sich wohl eher um Rock’n’Roll. Sie rocken die Stadt, schreibt Die Linke gern auf die Plakate. Seit Wochen sind sie auf Tour, allein, zu zweit, zu dritt, oft gemeinsam mit anderen Wahlkandidaten der Linken. In Leipzig unterstützen sie Sören Pellmann, den Ko-Vorsitzenden der Bundestagsgruppe, der zum dritten Mal seinen Wahlkreis gewinnen will. Das ist nicht nur eine Prestigefrage, sondern womöglich überlebenswichtig für Die Linke, auch wenn sie in den Umfragen momentan erstaunlich gut dasteht.

Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch sind im Dauereinsatz, und obwohl sie alle im Rentenalter sind, macht die permanente Belastung ihnen offensichtlich Spaß. Denn sie sind Teil einer Erfolgsgeschichte, die vor vier Monaten niemand für möglich gehalten hätte. Man könnte sich bei dem Trio ein wenig an die Olsenbande erinnert fühlen, auch angesichts der Statur. Die dänischen Krimikomödien über drei sympathische Kleinganoven, die trotz aller Widrigkeiten den Glauben an das ganz große Ding nicht verlieren, sind im Osten Deutschlands seit Jahrzehnten Kult. Wie die Olsenbande wollen die drei Silberlocken den Reichen und Superreichen ein Stück von ihrem Reichtum wegnehmen, allerdings nicht zum privaten Vorteil.

Der Kleinste ist der Chef, und er hat einen Plan, von dem er überall genüsslich erzählt: als Alterspräsident den nächsten Bundestag zur eröffnen und bei seiner Rede auf keine Zeitbeschränkung achten zu müssen. Er würde gern den Bogen schlagen zur Eröffnungsrede des Alterspräsidenten von 1994, Stefan Heym, den Gysi damals für eine PDS-Kandidatur gewonnen hatte. Heym sprach über Ungerechtigkeiten bei der deutschen Vereinigung, Wirtschaftskrise und soziale Schieflagen, Ausländerfeindlichkeit, NS-Vergangenheit und neue rechte Gewalt; beinahe könnte man meinen, die Zeit sei seitdem stehengeblieben. Die drei Silberlocken haben allerdings auch einen gemeinsamen Plan: mit Direktmandaten der Linken die bundesweite Bedeutung sichern.

Als Gysi die Mission Silberlocke ankündigte, beim Parteitag im Oktober des letzten Jahres, jubelten die Delegierten. Die Medien reagierten mit mildem Lächeln: sympathische, aber verzweifelte Idee, so das allgemeine Urteil. »Letztes Aufgebot«, solche Schlagzeilen gab es, und manche in der Linken fragten, warum es drei alte weiße Männer richten sollen. Die Umfragen sahen schlecht aus, trotz der vielen Eintritte in die Partei bewegte sich lange Zeit nichts.

Eines Tages sah Gysi ein Video, in dem eine junge Frau eine seiner Reden tanzt. »Ist das gut oder schlecht?«, wollte er wissen. »Frag deine Enkel«, sagte Ramelow.

Inzwischen lacht niemand mehr, sondern alles staunt. »Wir hingen damals bei drei Prozent, der Korken steckte fest im Flaschenhals«, sagt Bodo Ramelow. »Auf dem Parteitag haben wir den Korken gezogen, die Mission Silberlocke war der Plopp.« Tatsächlich, seit die drei Herren sehr gut organisiert im Silberlockeneinsatzkommando auf Tour sind, gibt es überall freundliche Berichterstattung. Was im Oktober niemand ahnen konnte: dass bald noch ein ganz anderer Hype losbrechen sollte.

Im Leipziger Ringcafé ist schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn jeder Sitz- und Stehplatz besetzt. Wer jetzt noch kommt, muss draußen bleiben. Etliche Hundert werden es schließlich sein, die fast zwei Stunden auf dem breiten Fußweg in der Kälte ausharren, wohin ihnen die Diskussion im Saal über Lautsprecher übertragen wird. Unter den Zuhörern sehr viele junge Leute, viele von ihnen Studenten an der Uni gegenüber oder an einer der Hochschulen der sächsischen Metropole. Zwischendurch gehen Gysi, Ramelow und Bartsch auf den Balkon, um den Leuten draußen direkt ein paar Worte zuzurufen. Als Gysi sich an die Brüstung stellt und zum Mikrofon greift, sagt jemand: »Jetzt ruft er die sozialistische Republik aus.«

Das passiert dann doch nicht; sie sprechen auf ihrer Tour über die ganz alltäglichen Probleme vieler Menschen, von denen sich Die Linke mit einer massiven Haustürkampagne ein Bild gemacht hat. Es geht vor allem um Mieten, Renten, Lebensmittelpreise, damit trifft Die Linke einen Nerv. Sie hat die Verteilungsdebatte nach oben gehoben. Während andere Parteien den schlecht bezahlten Einheimischen einreden, dass die Migranten schuld seien an ihrer Lage, geht Die Linke ein paar Etagen höher und fordert die schärfere Besteuerung der Supereichen, die von anderen Parteien gehätschelt werden. »Tax the rich« – Besteuert die Reichen – steht auf einem Shirt des Parteivorsitzenden Jan van Aken, der allenthalben mit dem Bekenntnis auftritt, dass es keine Milliardäre geben sollte. Das wurde zum Markenzeichen.

Von Klimagerechtigkeit ist in diesem Wahlkampf nicht mehr ganz so laut die Rede, nachdem Die Linke letztes Jahr bei der Europawahl mit diesem Schwerpunkt keine Punkte machen konnte. Doch in den nächsten Jahren wird sich Die Linke auch wieder der sich zuspitzenden Klimafrage widmen müssen. Vorerst ruft Gysi einer Demonstration von Klimaaktivisten, die gerade vorm Leipziger Ringcafé auf der Straße vorbeizieht, vom Balkon aus ein paar aufmunternde Worte zu. Als Antwort drehen die Demonstranten ihre Boxen auf, und Gysi, Ramelow und Bartsch wiegen sich dezent im Takt. Es sieht etwas eckig aus, aber das ist egal, das Video davon macht die Runde.

Irgendwann im letzten Spätsommer, als ihre Partei ganz unten war – in der medialen Todeszone, wie Ramelow sagt –, brüteten die Drei die Silberlocken-Idee aus. In kurzer Zeit wurden sie zu Publikums- und Medienlieblingen, zu Sympathieträgern. Ein fideles, selbstironisches Seniorentrio, das es noch mal allen zeigen will. Die Space Cowboys der Linken. Sie sind mit vielem verbunden, was der Linken und zuvor der PDS in mehr als drei Jahrzehnten gelungen und misslungen ist, mit dem Auf und Ab dieser Partei, die Erfolge feierte und Krisen durchlitt.

Die letzte Krise führte sie bis an den Abgrund; der Dauerstreit um Sahra Wagenknecht und ihre Thesen zu Migration, Gendern und anderen Themen riss Die Linke immer weiter nach unten. Erst als Wagenknecht im Herbst 2023, auf die Gunst der Stunde spekulierend, mit ihren Anhängern die Linkspartei verließ – eine Trennung, zu der sich Die Linke selbst nicht durchringen konnte –, kehrte allmählich Ruhe ein.

Allerdings nicht der Erfolg. Es war eine Befreiung mit Zeitverzögerung. Im Schatten des BSW steckte Die Linke 2024 schmerzhafte, beinahe existenziell gefährdende Wahlniederlagen ein. Zwar kamen viele neue Mitglieder, aber das spiegelte sich nicht im Wählerzuspruch. Bis im Herbst 2024 der Seniorenexpress losdampfte. Und gleichzeitig etwas passierte, womit in diesem Ausmaß niemand rechnen konnte. Zwar hatte Die Linke mit Heidi Reichinnek, der Ko-Vorsitzenden der Bundestagsgruppe, und der Mietenexpertin Caren Lay zwei Politikerinnen, die in sozialen Netzwerken wie Tiktok ziemlich aktiv sind, aber das hielt sich noch im gewohnten Rahmen.

Doch dann spitzten sich im Bundestag die Auseinandersetzungen um migrationsfeindliche Pläne der Union und eine mögliche Kooperation mit der AfD zu. Und in dieser Auseinandersetzung hielt Reichinnek im Parlament ein paar kurze, emotionsgeladene Reden, die im Internet alle Dimensionen sprengten. Reichinnek wurde zur Kultfigur mit millionenfachen Klicks, Die Linke macht der lange auf Tiktok führende AfD ernsthafte Konkurrenz. Jetzt zahlt sich aus, dass die Linke-Führung im Karl-Liebknecht-Haus massiv in die Arbeit mit den digitalen Medien, auf den sozialen Kanälen investiert hat. »Es ist ein völlig anderer Wahlkampf«, sagt Ramelow.

Inzwischen hatten auch netzaffine junge Leute im Umfeld der Linken das Potenzial dieser Partei entdeckt. Eines Tages flimmerte ein Video auf Gysis Smartphone, in dem eine junge Frau zu einer Bundestagsrede von ihm tanzte, unterlegt mit Musik. »Was ist das«, fragte er irritiert Bodo Ramelow, »ist das gut oder schlecht?« Ramelow riet ihm: »Frag deine Enkel.« Und die Enkel sagten: »Das ist cool.« Seitdem tänzeln und schauspielern die Silberlocken auch ein wenig und schrecken selbst vor kleinen Gesangseinlagen nicht zurück.

Ramelow hatte das schon letztes Jahr im Thüringer Wahlkampf ausprobiert, unterstützt von jungen Leuten; eine Musikpersiflage wurde damals das erfolgreichste Video der Linken. Ihn habe Reichinnek seinerzeit »zu Tiktok gezwungen«; sie habe dort schon vorher angefangen, »der blauen Welle etwas entgegenzusetzen«. In den letzten Wochen erzielte Die Linke auf Tiktok mehr Reichweite gerade bei jungen Leuten als die Rechtsaußenpartei.

Das zahlt sich aus: Bei der kürzlichen U18-Bundestagswahl, veranstaltet vom Bundesjugendring, lag Die Linke mit gut 20 Prozent vorn. Und in einer Forsa-Umfrage unter 18- bis 29-Jährigen führt Die Linke gleichauf mit den Grünen mit 19 Prozent. Das liegt meilenweit über Vergleichswerten vor ein paar Jahren. »Früher«, sagt Ramelow, »sollten die Älteren in der Partei ihre Enkel bequatschen, Die Linke zu wählen. Heute bequatschen die Enkel ihre Großeltern.«

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Und sie kommen massenhaft zu den Veranstaltungen; wie in Leipzig ist es derzeit in vielen Städten. Die Alten, die schon früher da waren und nicht selten unter sich, kommen immer noch, aber sie fallen unter den vielen jungen Leuten kaum noch auf. Die Partei verzeichnet in kurzer Zeit Zehntausende Eintritte, zwischendurch gingen ihr die Mitgliedsausweise aus. Sie verändert ihr Gesicht, auch in Leipzig. Nach dem Besuch der Silberlocken verzeichnete Die Linke in der Stadt fast 200 Eintritte. Der Stadtverband hat jetzt 3750 Mitglieder; im letzten Spätsommer waren es weniger als 2000. Wahlkämpfer erzählen, dass viele junge Neumitglieder sofort mitmachen wollen bei Infoständen und Flyeraktionen.

Natürlich, es ist auch ein großes Abenteuer, ein Experiment, das die eben noch totgesagte Linke gerade erlebt. Denn mit diesem massenhaften Interesse muss eine Partei erst einmal fertig werden. Viele neue junge Mitglieder bringen neue Ansichten, andere Erfahrungen und Erwartungen mit. Das muss sich sortieren. Er habe eine Bitte an die jungen Leute, sagt Gysi in Leipzig: »Ihr dürft Fehler machen, aber nicht unsere alten. Ich verlange, dass ihr eure eigenen Fehler macht.« Es könnte, mit dieser Portion Lebensweisheit, auch ein Satz aus der Rede eines Alterspräsidenten sein.

Abends fährt Gysi noch nach Coswig bei Dresden, zu einem Auftritt mit Harald Schmidt. Bartsch musste schon etwas zeitiger los, er wird in Magdeburg erwartet. Ramelow hat an diesem Abend mal frei. Aber das ist die Ausnahme in diesen turbulenten Tagen.

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