Eine immerwährende Wunde

Wolfgang Herzberg über seine jüdischen Prägungen und die Schatten finsterer deutscher Vergangenheit

Dresdner Schüler pflegen im Juli 1988 die Grabstätten auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in der Fiedlerstraße in Dresden.
Dresdner Schüler pflegen im Juli 1988 die Grabstätten auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in der Fiedlerstraße in Dresden.

Ihr neues Buch betiteln Sie »Jüdisch & Links«, das Sie jüdischem Leben in der DDR widmen, vor allem aber der Geschichte Ihrer Eltern, die noch 1939 vor dem mörderischen Antisemitismus der Nazis als 17-Jährige nach England flüchten konnten.

Interview

Wolfgang Herzberg, 1944 in Leicester als Sohn jüdisch-deutscher Emigranten geboren, studierte Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete als Rechercheur, Redaktions- und Regieassistent beim Dokumentarfilm des Fernsehens der DDR, bevor er ab 1981 als freischaffender Publizist und Autor von Liedtexten vor allem für die Band Pankow seines Bruders André Herzberg tätig war, darunter für das Rockspektakel »Paule Panke« und das Album »Hans im Glück«. Ende vergangenen Jahres erschien sein Buch »Jüdisch & links«, das er am Vorabend des Internationalen Auschwitztages am 26. Januar in der Hellen Panke vorstellt (15 Uhr, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin).

Meine Mutter erhielt eine Bürgschaft ihres Onkels und mein Vater überlebte dank eines Kindertransportes der Quäker. Für beide mussten jeweils 3000 Pfund gezahlt werden, für meine Mutter bürgte Baron Rothschild. Das Geld musste auf einer englischen Bank hinterlegt werden, falls ein Flüchtling arbeitslos wurde.

Ist es aufgrund emotionaler Nähe schwerer, die Geschichte der eigenen Familie aufzuschreiben und zu veröffentlichen?

Ja, denn die psychologischen Spätfolgen des Völkermords der Nazis an den Juden waren für meine Eltern und sind für uns Kinder eine immerwährende Wunde, die nie gänzlich verheilt. Hinzu kommt, dass meine Eltern, die 1947 mit der Hoffnung zurückkehrten, eine antifaschistisch-sozialistische Gesellschaft mit aufzubauen und diese dann gescheitert sahen. Diese schmerzhafte Enttäuschung stellte dann auch ihre Rückkehr und ihr Leben in der DDR infrage.

Wie viel Raum nahm in Ihrem Familienleben die jüdische Herkunft ein? Und ab wann haben Ihre Eltern Ihnen von ihrer Odyssee zu NS-Zeiten erzählt?

Ich bin durch Zufall als etwa zehnjähriger Junge darauf gestoßen. Ein Mädchen namens Maria, mit der ich mich mit anderen Kindern regelmäßig auf der Straße traf, wurde eines Tages von ihrer Mutter angehalten, nicht mehr mit mir zu spielen – weil ich ein »Judenjunge« sei. Als ich meinen Eltern traurig darüber berichtete, begannen sie mich und meine Schwester Wera mit ihren Lebensgeschichten vertraut zu machen; unseren Bruder André erst später, weil er damals noch ein Baby war. Seit dieser Zeit beschäftigte ich mich dann immer stärker mit meiner jüdischen Herkunft, jüdischer Geschichte und Kultur, las viele Bücher, darunter von Heinrich Heine, Lion Feuchtwanger, Jakob Wassermann oder Stefan Zweig. Und später habe ich dann das biografische Interview vor allem mit jüdischen Zeitzeugen zu meinem Beruf gemacht. Ich befragte auch meine Eltern intensiver.

Warum entschieden sich viele emigrierte Juden und Jüdinnen, nach der Befreiung vom Faschismus in den Osten Deutschlands zurückzukehren? Ihr Vater stammt eigentlich aus Hannover.

Ja, und meine Mutter stammte aus Berlin-Prenzlauer Berg. Meine Eltern waren beide Jahrgang 1921. Sie haben sich in der englischen Emigration in einer deutschen Kulturbund-Gruppe kennengelernt, aus der schließlich eine Gruppe der »Freien Deutschen Jugend« hervorging. Sie traten beide der Auslands-KPD bei und besuchten gemeinsam politische Seminare, die sie zum Widerstand gegen die NS-Herrschaft motivierten.

Ihr Vater tat kurz vor Kriegsende noch der Royal Army bei, mit der er nach Westdeutschland gelangte und dort noch bis 1947 als britischer Besatzungssoldat diente. Mir erzählte er in einem Interview, dass ihm dort von den Deutschen noch übelster Antisemitismus entgegenschlug.

Ja, das stimmt. Und es waren übrigens nicht »viele« Rückkehrer, die meisten aus Nazideutschland geflohenen Juden und Jüdinnen wollten das Land der Täter nie wieder betreten. Aber meine Eltern hatten in der Emigration die idealistische Überzeugung gewonnen, mithelfen zu können und zu müssen, um ein »neues Deutschland« aufzubauen, in dem nicht mehr das Kapital, sondern eine »Arbeiter- und Bauernmacht« herrschen würde. Diese Hoffnung erwies sich jedoch mit den Jahren immer mehr als Illusion angesichts der zentralisierten Kommandomacht durch das Politbüro. Dennoch sind meine Eltern ihren linken Idealen nach 1990 treu geblieben.

Ihre Eltern können als etabliert und privilegiert in der DDR gelten: der Vater Journalist beim ADN und im Rundfunk, die Mutter Jugend- und schließlich Generalstaatsanwältin. Und alle ihre drei Kinder nahmen ihr Leben in der DDR selbstbestimmt in die Hand: Sie als Publizist und Dokumentarist, Ihr Bruder als Rockmusiker, Ihre Schwester als Schauspielerin. Jüdische Herkunft war in der DDR kein Hindernis für Berufsfindung und Lebensplanung?

Nein, eher im Gegenteil. Menschen jüdischer Herkunft nahmen in Kultur, Wissenschaft und Politik verantwortliche Funktionen wahr. Man denke nur an Hermann Axen, Albert Norden und Klaus Gysi. Oder an Heinrich Toeplitz, Präsident des Obersten Gerichts der DDR. Und bei den Gesellschaftswissenschaften an Jürgen Kuczynski und Hans Mottek. Fast allen Berufsverbänden standen Überlebende der Shoah vor: Lea Grundig als Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler und Anna Seghers vom Schriftstellerverband, Ernst-Hermann Meyer als Präsident des Musikrates der DDR und des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler sowie Konrad Wolf als Präsident der Akademie der Künste. Allerdings begegnete uns drei Geschwistern auch immer wieder Engstirnigkeit, weil wir nicht konform fühlen und denken konnten. Das machte unsere berufliche Entwicklung oft nicht einfacher. Deshalb wurde keiner von uns Parteimitglied.

Auch in der DDR gab es Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen und dumme Stammtischparolen, aber keinen solch aggressiven Antisemitismus wie in der alten und heutigen Bundesrepublik, mit Brandanschlägen auf Synagogen und tätlichen Übergriffen auf offener Straße. Verdankte sich dies nicht doch der Staatsdoktrin Antifaschismus in der DDR?

Das ist sicherlich richtig. Dennoch gab es, insbesondere bei Jugendlichen, antisemitische Einstellungen, Friedhofsschändungen und Fremdenfeindlichkeit. Es gab ein weitverbreitetes Untertanentum, Autoritätsgläubigkeit, Opportunismus, Mitläufertum und mangelnde Zivilcourage – wie auch im Alltag der Bundesrepublik. Das heißt, trotz antifaschistischer Erziehung im staatlichen Bildungswesen, trotz guter Bücher und Kunstwerke wurde die NS-Zeit auch in der DDR nicht tiefgründig genug aufgearbeitet, wurden Kenntnisse zur Geschichte der Juden und des Antisemitismus ungenügend vermittelt, einschließlich einer Erziehung zum »aufrechten Gang«.

Macht Ihnen zunehmender Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Angst? Und was ist dagegen zu tun? Sollte die Demokratie wehrhafter einschreiten?

Ja, das macht mir Angst. Und ja, die Demokratie sollte wehrhafter einschreiten. Ich fühle mich jetzt in Deutschland weniger zu Hause als in der DDR. Ich bin zwar auch heute keinem direkten Antisemitismus im Alltag begegnet, aber die Rechtsentwicklung in der Mitte der Gesellschaft und insbesondere die Tatsache, dass erneut deutsche Waffen gegen Russland eingesetzt werden, die der Ukraine helfen sollen, aber den tödlichen Krieg für beide Seiten nur verlängern, ist für mich unerträglich. Es sollte auf eine Verhandlungslösung gesetzt werden. Und ich wünschte mir eine starke Friedensbewegung, wie es sie schon einmal gab, in Deutschland und anderswo.

Wie wichtig ist Ihnen Ihre jüdische Herkunft?

Sie macht den Kern meiner Persönlichkeit und meines Seins als Autor aus, allerdings bin ich nicht religiös. Ich bin ein atheistischer Jude.

Mit Reinhold Andert haben Sie das seinerzeit viel beachtete Buch »Honeckers Sturz« verfasst. Hatten Sie Mitleid mit dem nach seiner Entmachtung rasant gealterten ehemaligen Staats- und Parteichef?

Mitleid weniger, weil auch in seiner Regierungszeit kein demokratischer Sozialismus möglich war und damit auch keine eventuell tragfähige Alternative zur Gesellschaftsordnung der BRD entwickelt wurde. Ich war aber gegen seine Vertreibung in die Obdachlosigkeit und gegen seine Verhaftung und Verurteilung durch die bundesdeutsche Justiz. Kurz zuvor hatten viele westdeutsche Politiker und Industrielle noch seine Hand geschüttelt, sicher auch, um die deutsch-deutschen Beziehungen zu humanisieren.

Haben Sie der DDR eine Träne nachgeweint?

Ich habe mich in der DDR, trotz manch tiefen Umbehagens angesichts der Abgründe zwischen linken Idealen und Wirklichkeit, heimischer und beschützter gefühlt als jetzt in der BRD. Ich empfand mich in der DDR eher sinnstiftend gebraucht. Dagegen ist mir die heutige kapitalistische Gesellschaft und auch die gesamte politische Klasse sehr fremd. Ich fühle mich ihr fast ohnmächtig ausgeliefert. Und auch meine Existenz als Autor ist heute medial und finanziell außerordentlich fragil.

Ihr Bruder André hat sich vor fünf Jahren mit einem Roman, »Was aus uns geworden ist«, der Identität von Kindern verfolgter Juden gewidmet. Sind Ihre beiden Bücher Konkurrenzunternehmen?

Nein, das glaube ich nicht. Jeder verarbeitet seine Sicht auf die jüngste Geschichte. Ich bin 13 Jahre älter als mein Bruder und habe unsere Eltern und die DDR dadurch noch anders erfahren. Dazu mag auch mein akademischer Hintergrund als studierter Kulturwissenschaftler beigetragen haben. Ich versuche mit meinem Buch eine kritische Würdigung jüdischer Familien, die in der DDR oft konfliktreich gelebt und gewirkt haben.

Wolfgang Herzberg: »Jüdisch & Links«, Vergangenheitsverlag, 500 S., br., 24 €.

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